Campino machte nie einen Hehl daraus, wie sehr ihn Joe Strummer geprägt hat. Kurz nachdem dieses Foto der beiden entstand, verstarb Strummer mit nur 50 Jahren. Coldplays Chris Martin fotografierte ich 2003 in London, ein Jahr später wurde seine Tochter geboren, die er Apple nannte. Nick Cave traf ich 2000 in einem Londoner Hotelzimmer, Iggy Pop 2001 in einem alten Boxclub in Miami, in dem schon Muhammad Ali trainiert hatte, für das Cover seines Albums„Beat ’Em Up“ – das Foto wurde nicht verwendet und ziert nun ein Best-of-Album. Rammstein-Gitarrist Richard Z. Kruspe fotografierte ich 1998 auf dem Dach seines Hauses in Prenzlauer Berg, den amerikanischen Schauspieler Don Cheadle 2004 – zehn Jahre später spielte er Miles Davis.
BEI DER ERSTEN BEGEGnung saß Jochen Distenung saß Jochen Distelmeyer in einem Café an der Feldstraße in Hamburg und frühstückte. Es war wahrscheinlich das Café, in dem er immer frühstückte. Er hatte im „stern“ gelesen, auf dessen Titelblatt ein Gespräch mit Marius Müller-Westernhagen angekündigt wurde, und knapp nach der Begrüßung echauffierte sich Distelmeyer über den Sänger, der gerade mit einem Song präsent war, in dem er zum Rolling-Stones-Boogie emphatisch „Es ist Krieg!“ ruft. Distelmeyer hatte mit seiner Band Blumfeld die erste Platte herausgebracht,„Ich-Maschine“ . Noch sprach man nicht von „Diskurs-Pop“ und „Hamburger Schule“, aber Jochen Distelmeyer war schon der Klassensprecher und führte den Diskurs. Er hatte die wichtigste deutsche Platte jener Zeit gemacht, und er wusste es. Er sprach über alles, und über alles flammend. Irgendwann trafen der Schlagzeuger André Rattay und der Bassist Eike Bohlken ein, aber es war nicht so, als wären sie wirklich da gewesen.
Zwei Jahre später erschien„L’Etat Et Moi“ , und jetzt fand das Interview in einem Hotel mit Blick über den Hamburger Hafen statt. Der schwarz gekleidete Manager trank ein Schnäpschen im Foyer, Distelmeyer bestellte im leeren Speisesaal des, man muss sagen: altehrwürdigen hanseatischen Hotels Matjes in Hausmachersoße.„L’Etat Et Moi“ gefiel jedem, der eine veröffentlichte Meinung über Musik hatte, und belegte einige Wochen später Platz 99 der deutschen Album-Charts, was 1994 noch etwas bedeutete, nämlich dass eine erkleckliche Anzahl von CDs in einer Woche verkauft worden war. An jenem Abend über dem Hamburger Hafen schien es Jochen Distelmeyer und seinem Manager so, als hätte sich die Welt verändert. Und ihre Welt hatte sich auch verändert.
Fünf Jahre vergingen, dann kam„Old Nobody“ , und Distelmeyers Welt hatte sich wieder verändert, er war verliebt, und die Musik hatte sich verändert, er war verliebt in Prefab Sprout, Adamski und die Münchener Freiheit, einige Musiker waren hinzugekommen. Wir sprachen im Restaurant Überseebrücke, einem Ausflugslokal, in dem es Kännchen gab, wieder der Blick über den Hafen, und wieder sprach Distelmeyer flammend, diesmal über Ingeborg Bachmann und die Münchener Freiheit, und nach dem Interview hüllte er sich in einen Anorak, zurrte die Kapuze fest und ging mit zur U-Bahn. Zwei Jahre später erschien„Testament der Angst“ . Der schwarz gekleidete Manager hatte ein Geschäft mit einer großen Plattenfirma gemacht, volle Kontrolle natürlich, und trank ein Schnäpschen im Restaurant Überseebrücke, es gab Matjes mit Hausmachersoße. Jochen Distelmeyer hatte zwei Musiker mitgebracht, aber sie kamen kaum zu Wort, denn Distelmeyer erklärte, dass das Cover von„Old Nobody“ die Band gleichsam als britische Königsfamilie vor schwarzem Hintergrund zeigte, während auf dem Cover von„Testament der Angst“ ein Mann als Silhouette vor einem Fenster zu sehen ist. Er gab ungefragt zu, dass Randy Newman ihn 1999 mit„Bad Love“ bei dem imaginären Wettbewerb um das beste Album des Jahres übertroffen habe.
Distelmeyer spekulierte über die Konkurrenz von Bob Dylan und Bruce Springsteen, ein Topos, den er womöglich als Gegenstand des Diskurses beim ROLLING STONE vermutete. Am Ende rief er in Hochstimmung übermütig: „Jungs, lasst uns ein Bier trinken!“ – und schüttete sein Münzgeld auf die Tischdecke.
Vor jeder neuen Platte fragte der schwarz gekleidete Blumfeld-Manager brummend, ob es nicht Zeit sei für ein Titelblatt. Als„Verbotene Früchte“ erschien, 2006, war es Zeit für ein Titelblatt. Distelmeyer blickt den Leser fest, ernst und in Schwarz-Weiß an, darunter steht: „Ein deutscher Dichter“. Es war das letzte Album von Blumfeld. Zehn Jahre später winkte mir Jochen Distelmeyer bei einem Festival von einem Balkon aus zu, während er in ein Smartphone sprach, flammend.