... auch. Mehrfach animierte sie die Zuschauer trotzdem, ihre Platzmarkierungen zu verlassen und nach vorn zur Bühne zu kommen, dicht gedrängt, ohne Maske. Wie bei einem normalen Popkonzert. Nur, dass in Zeiten von Corona nichts mehr normal ist. Es gibt Leute, die Nena für hre Anti-Haltung feiern, die jubeln, weil Nena, die Wutbürgerin, eine der wenigen ist, die sich überhaupt noch traut, unverblümt ihre Meinung zu sagen. Und so handelt, wie sie es für richtig hält. Nach dem Motto: Wut ist ein Gefühl, das jedem zusteht, und diese Wut wird man ja wohl noch ausleben dürfen!
Abgesehen davon hat sie das ja immer schon getan. Gegen den Strom zu schwimmen ist eine ihrer leichtesten Übungen. Vor Jahren gründete Nena eine freie Schule in Hamburg, an der es keinen Unterricht im klassischen Sinne gibt und wo die Schüler selbst entscheiden, wann sie lernen. Die Mutter von fünf Kindern ist glühender Esoterik-Fan und forderte auch jetzt ihre Fans auf, unbedingt an das zu glauben, „was man nicht sieht!“ Auf die Pandemie übertragen, könnte das heißen: Was die Wissenschaft dazu schreibt, ist Humbug. Fehlt eigentlich bloß noch, dass sie sich dafür stark macht, die Delta-Variante des Virus mit Licht abzutöten. Oder durch Yoga-Ommen…
Genau aus diesen Gründen fragen sich immer mehr Menschen in Deutschland, was bloß mit der Frau los ist, die bürgerlich Gabriele Kerner heißt und seit ihrem Eighties-Welterfolg „99 Luftballons“ aus unserer Popszene nicht mehr wegzudenken ist. Ein Denkmal, das sich in den Augen ihrer Kritiker gerade selbst demontiert. Weil Nena eine pauschale Anti-Haltung an den Tag legt, die viele, um es vorsichtig zu formulieren, für fragwürdig halten.
Bereits im März wurde die Sängerin als „Problem-Nena“ auffällig, weil sie den 20 000 Teilnehmern einer sogenannten Querdenker-Demonstration via Instagram ein „Danke Kassel“ zujubelte. Geht’s noch?, haben da nicht nur wir gedacht. Zwar nahm sie an dem Protest nicht teil, noch hat sie sich vorher oder seitdem ausdrücklich mit den Querdenkern solidarisiert – Zeitgenossen, die wissenschaftlichen Corona-Erkenntnissen ohne triftige Argumentation widersprechen und behördlich angeordnete Maßnahmen (zum Beispiel Mund-Nasen-Schutz und Abstand) ablehnen.
Dennoch hat sich Nena, gewollt oder unbeabsichtigt, zu einer Art prominentem Sprachrohr der Bewegung entwickelt. Weil man alles und nichts in das hineininterpretieren kann, was sie derzeit von sich gibt. Nur Geschwurbel, also? Jedenfalls trendete vorige Woche der Hashtag #makegermanyschwurbelfrei, der natürlich eine Reaktion auf Nena war.
Dass die Sängerin, die wie alle Künstler während der Lockdowns nicht auftreten konnte, ihrem Frust darüber freien Lauf lässt – geschenkt, verstehen wir. Die finanziellen Einschnitte durch die Corona- Krise sind für viele Kreative existenzgefährdend. Ob Musikschaffende, Bühnentechniker, Veranstalter oder Autoren, sie alle leiden unter abgesagten Konzerten, Lesungen oder Messen. Der Bund rechnet mit insgesamt bis zu 28 Milliarden Euro Ausfällen in der Kreativwirtschaft. Und viele aus diesem Bereich fühlen sich von der Politik im Stich gelassen – was leider auch zum Teil stimmt. Doch angesichts sinkender Impfquoten und einer möglichen vierten Welle so zu tun, als lebten wir in einem Unrechtsstaat und sich als Rebellin zu gefallen, die Hygienekonzepten den Kampf ansagt, ist brandgefährlich. „Jeder kann frei entscheiden, ob er sich impfen lässt“, sagt Nena in Berlin. Und: „Holt euch eure Freiheit zurück!“ Dann erwähnt sie kurz die Eigenverantwortung eines jeden. Worin die genau besteht? Lässt sie offen. Ob es verantwortlich ist, andere durch egoistisches Verhalten zu gefährden, darüber ließe sich diskutieren – ob mit ihr, ist eine andere Frage. Für den Berliner „Tagesspiegel“ steht in einem Kommentar zu Nena jedenfalls fest, dass dann „Freiheit in Willkür“ umschlägt.
Erste Konsequenzen muss die Sängerin für ihr Verhalten schon tragen: Ein Konzert Mitte September in Wetzlar sagte der Veranstalter ab, distanzierte sich „von den Aussagen der Künstlerin“ – und verliert jetzt bestimmt jede Menge Geld. Nena ebenso. Weitere Annullierungen könnten folgen. „Die Frage ist nicht, was wir dürfen“, sagte sie in Berlin, „sondern, was wir mit uns machen lassen.“ Sollte Nena irgendwie irgendwo irgendwann richtig auf die Schnauze fallen und im Aus stehen, braucht sie sich nicht zu wundern. Dorthin hat Nena sich selbst manövriert. ■