... strukturbildend für unser (nicht nur deutsches) Schulwesen ist (Cortina, 2016): Bereits Wilhelm von Humboldt hatte im Königsberger Schulplan die allgemeine Menschenbildung der rein zweckrationalen Ausbildung gegenüber gestellt und daraus das neuhumanistische pädagogische Verständnis abgeleitet, das bis heute die Basis schulischer Unterweisung ist: Nämlich die Einsicht, dass es verschiedene, nicht ineinander überführbare oder auseinander ableitbare Horizonte zum Verständnis der Welt gibt. Baumert nennt sie die „Modi der Weltbegegnung“ und stellt der „kognitiven Rationalitätsform“, also dem kausal- analytischen Vorgehen der Mathematik und der Naturwissenschaften, die „ästhetische- expressive“ Weltbegegnung der musischen Fächer und der Literatur entgegen (Baumert, 2002, S. 111). Der Vollständigkeit halber seien auch die normativ-evaluative Weltbegegnung (Geschichte/Recht/Ökonomie) und die ethisch-konstitutive Rationalität (Religion/Philosophie) erwähnt.
Der Kompetenzbegriff trägt deutlich die Handschrift der analytisch-kognitiven Betrachtung und ist dort wohl für die Beschreibung von Lernprozessen nützlich. Doch mit dem Wesen der ästhetisch-expressiven Auseinandersetzung mit der Welt ist er wenig kompatibel und nur sehr begrenzt tauglich, den Erfolg ästhetischer Bildung in der Schule abzubilden. Die ‚kundlichen‘ Anteile der Kunst- und Musikerziehung (z. B. Epochen der bildenden Kunst, Aufbau des Quintenzirkels) sind sicher als Kompetenzen konstruier- und testbar. Doch zur Sinnlichkeit als Ausgangspunkt jedweder ästhetischen Erfahrung wie auch zur pädagogischen Heranführung an ästhetische Reflexion bleibt der Begriff Kompetenz geradezu antithetisch: Der unmittelbare Spaß, den Kinder beim instruierten Umgang mit Farben haben oder dem Ausprobieren von Musikinstrumenten hat pädagogisch das primäre Ziel, Erfahrungshorizonte zu erweitern und nicht Kompetenzen zu erzeugen. (Dafür kann man bei Interesse Klavierstunden nehmen). Auch die Gemeinsamkeit ästhetischen Erlebens steht in deutlichem Gegensatz zum unterschwellig Kompetitiven, das mit dem Kompetenzbegriff assoziiert ist.
Nachzuvollziehen, was Picasso mit Guernica ausdrücken und somit erfahrbar machen will, ist gerade nicht oder jedenfalls nicht nur das Wissen, das man sich dazu auf Wikipedia aneignen kann. Sich aus den westlichen Hörgewohnheiten zu lösen, um die komplexe Emotionalität indischer Sitarmusik zu verstehen, kann man vielleicht als Kompetenz bezeichnen, das Erleben selbst aber nicht. Die Theater AG an einer Schule mag mit ihrer „Leonce und Lena“ Inszenierung tatsächlich an einem Theaterwettbewerb teilnehmen, der im weitesten Sinne Kompetenz vergleicht – doch das pädagogische Ziel der intensiven Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern ist nicht Kompetenzentwicklung im engeren Sinne. Eher ist das Ziel wohl die Selbstreflexion, Selbstdistanz und Selbstfindung durch die Identifikation mit der angenommenen Rolle. Die Ziele ästhetisch- expressiver Bildung in der Schule sind dem Wesen nach bestenfalls tangential als Kompetenzen im Sinne des kausal-analytischen Weltverständnis darstellbar, ihren Kern treffen sie begrifflich nur, wenn man den Kompetenzbegriff bis zur Trivialität definitorisch ausdehnt (in dem Sinne das sinnliche Erfahrung auch eine Kompetenz ist).
Ziel der vier folgenden Beiträge im Schwerpunktheft Ästhetische Bildung ist es, den Diskurs um die ästhetische Bildung in der Pädagogik sichtbarer zu machen.
In ihrer qualitativen Analyse von Videoszenen zeigt Kathrin Borg-Tiburcy auf, wie bereits Grundschulkinder in spielerischer Interaktion in der Lage sind, eine gemeinsame ästhetische Formensprache zu entwickeln. Malte Brinkmann und Carlos Willatt zeichnen in ihrem Essay das Verhältnis von Ästhetik, Bildung und Erziehung nach, dass sie im Spannungsfeld von Marginalisierung und Mythisierung sehen. Unter Rückgriff auf das Konzept der Transkulturalität spürt Andrea Püringer mit Hilfe qualitativer Interviews mit Musiklehrkräften der Frage nach, wie konzeptionelle Ideen über ästhetische Bildung im konkreten Schulhandeln reflektiert werden. In der transkulturellen Realität an vielen Grundschulen ergibt sich demnach gerade für den Musikunterricht eine Chance, den humanitären, auf kulturelle Verständigung ausgerichteten Aspekt ästhetischer Erfahrung, bereits im Musikunterricht an der Grundschule gezielt zu kultivieren. Noch konkreter wird zum Abschluss Malte Sachsse, der anhand des Konzepts von „Musik erfinden“ aufzeigt, wie curriculare Vorgaben, die dem Kompetenzparadigma folgen, nur zum Teil die dahinterliegende pädagogischen Idee abbilden können.
Das Schwerpunktheft ist das Ergebnis eines Aufrufes an frisch Promovierte und ihre akademischen AnleiterInnen, ihre Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Viele weitere z. B. sehr relevante Vorschläge wurden gemacht, die es aus verschiedenen Gründen nicht in den vom Umfang her notwendigerweise begrenzten Themenschwerpunkt geschafft haben. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Schwerpunktheft AutorInnen Mut macht, Beiträge zum Thema Ästhetische Bildung in Zukunft als freie Manuskripte einzureichen.
Literatur
Baumert, J. (2002). Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In L. Reisch, J. Kluge & N. Killius, (Hrsg.),Die Zukunft der Bildung (S. 100 – 150). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Cortina, K. S. (2016). Kompetenz, Bildung und Literalität. Anmerkungen zum Unbehagen der Pädagogik mit zentralen Konzepten der empirischen Bildungsforschung. In S. Blömeke, M. Caruso, S. Reh, U. Salaschek & J. Stiller (Hrsg.),Traditionen und Zukünfte: Beiträge zum 24. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, (S. 29 – 42). Opladen: Barbara Budrich.
Anschrift des Autors
Prof. Dr. Kai S. Cortina, University of Michigan, Combined Program in Education and Psychology, Developmental Psychology, 530 Church St., Ann Arbor, MI, 48109-1043, U. S. A.
E-Mail: schnabel@umich.edu