... liegen. »Die Liebe zu seiner Schwester lässt ihn auseinanderfallen«, zitiert Gstrein den Bonnie-Tyler-Klassiker »Total Ecplise of the Heart«. Und das könne man nicht nur als etwas Beklagenswertes, sondern als etwas Triumphales empfinden.
Den Traum vom selber Fliegen musste Elias aufgrund seiner Panikattacken aufgeben. Aber als Flugbegleiter hat er später viel Zeit in der Luft verbracht. Nun hängt er nicht nur infolge der Pandemie in der Luft und zieht nach Berlin zu seiner Schwester Ines, an die ihn ein dunkles Geheimnis und frühe Schuld binden.
Über die Umstände ihrer Verwandtschaft wurden sie lange im Unwissen gelassen: Ihr gemeinsamer Vater, ein Hotelier in Tirol (der von dort aus das Virus über halb Europa verbreitet hat) schwängerte seinerzeit im Abstand von nur wenigen Monaten zwei Frauen – Elias’ und Ines’ Mütter. Die Konstruktion fast eines Zwillingspaares, die Geschwisterliebe – auch das hat mythologische Dimensionen. Darf man die beiden – Elias und Ines – als zwei Seiten einer (selbstzerstörerischen) Person begreifen? »Das kann man gewiss. Ich habe schon lange die Sehnsucht gehabt, mir eine solche Schwester herbeizuerzählen, die vielleicht noch eine Spur verrückter ist, als es die Ich-Erzähler meiner letzten Romane sind und als es insbesondere der Erzähler dieses Romans ist. Wenn ich mir vorzustellen versucht habe, welche Figuren in der Literatur ich gern kennenlernen würde, waren es immer solche Figuren, Figuren, die natürlich aus der Realität kommen, aber auch aus dem Mythos.«
Keiner, glaubt Elias, hat Ines je so geliebt wie er, seit er zum ersten Mal einen Blick auf die damals Sechsjährige geworfen hat. Und keiner von Ines’ Liebhabern, der später nicht in Elias’ Armen landet oder auf mysteriöse Weise zu Sturz kommt: Solche Passagen sind von der Qualität der großen Patricia Highsmith und tragen doch die Züge Gstrein’scher Vexierspiele. Und als es Elias ernst wird mit Carl, reißt Ines einen Abgrund zwischen sie.
Westlicher Zynismus: Kaum dass sie sich ihre zweite Impfung erdrängelt hat, fährt Ines an die Küste Siziliens, der Hochburg der Flüchtlingstragödie. Für den Roman, an dem sie dort schreibt, bedient sie sich der Geschichte Carls: Weiß sie gar, welches Leid sie damit auslöst? Carl, »über dessen Aussehen man fast bis zum Ende nicht viel mehr erfährt, als dass er sehr helle Augen hat« und der offenbar der Sohn eines Afroamerikaners und einer Schwäbin ist.
Ist die Dreiecksgeschichte – zwei Männer (einer von ihnen ein Schwarzer), eine Frau, die sich für alles andere als Rassisten halten, nur um am Ende an ihren Vorsätzen zu scheitern – womöglich selbst fragwürdig? Großartig der Showdown am Ortsbrunnen, der mehr zum Thema beiträgt als jede theoretische Diskussion.
Welche Arten von Rassismen tragen wir in uns? Wie aufgeklärt sind wir wirklich? Wie wichtig ist »korrekte«, inklusive Sprache? »Wir können froh sein, dass Bewegung ins Gespräch gekommen ist bzw. dass es das Gespräch überhaupt gibt und wir plötzlich über Prämissen nachdenken, die wir als selbstverständlich genommen haben, die aber nicht selbstverständlich sind.« Es gibt ein Kapitel im Buch, das auf Englisch geschrieben ist, weil einer der Protagonisten sie wahrhaftig erzählen will: »Haben wir uns da einer kulturellen Aneignung schuldig gemacht, oder habe ich umgekehrt einem, der Englisch spricht, eine Stimme gegeben? Oder zeigt das vor allem, wie weit über das Ziel hinausschießend diese Diskussionen um kulturelle Aneignung häufig sind? Vielleicht ist es eher so, dass Kultur, zumal ab einer gewissen Entwicklung, immer auch kulturelle Aneignung mitbedeutet und dass wir glücklich darüber sein sollten, glücklich über den Austausch.«
Wenn nichts mehr hält: Um Identitäts- und Sinnkrisen, unzuverlässige Erzähler und zweifelhafte Wahrheiten, alte Schulden und Scham, Misogynie und Rassismus, das Verschwinden der Gletscher und aller Gewissheiten kreisten schon seine vorherigen drei Romane »Die kommenden Jahre«, »Als ich jung war« und »Der zweite Jakob« – alle große Literatur. Und nun also der Mythos der romantischen Liebe.
"Sie machen weite Bewegungen hinaus in die Welt, aber wenn sie in den Spiegel blicken, blickt ihnen kein anderer entgegen, sondern immer nur sie selbst."
― Norbert Gstrein
Existieren wir nur im, durch den Blick der anderen? Wie schützen wir das, was wir lieben? »Vier Tage, drei Nächte« dauert nicht nur die traditionelle Preseason-Sause von Elias’ und Ines’ Vater, der sein Haus trotz neuerlichen Lockdowns öffnet (und unter großem medialem Getöse wieder schließen muss). »Vier Tage, drei Nächte« sind es noch bis zum Ende des Corona-Jahres 2020, in denen Elias, Ines und Carl einander frei nach Boccaccios »Decamerone« die traurigen Geschichten ihrer ersten Liebe erzählen – nicht ohne sich davor darüber verständigt zu haben, »dass es Liebe in diesem Sinn eigentlich gar nicht mehr gibt, und natürlich ist das traurig. Wenn es stimmt, dass es sie nicht mehr gibt, ist aber auf jeden Fall ihre Sehnsucht intakt, es gäbe sie noch.« Sie könnten sich diese Desillusionierung selbst zugezogen haben oder Lesende der Soziologin Eva Illouz sein, die sich mit den Auswirkungen von Konsum und Kapitalismus auf unser Gefühls- und Liebesleben befasst, »und irgendwo bin dann da wieder auch ich«.
Das Spiel mit der eigenen Biografie, mit Fakten und Fiktion ist Bestandteil vieler Romane des im Ötztaler Bergsteigerdorf Vent als Sohn eines Hoteliers aufgewachsenen, in Hamburg lebenden Gstrein. Wird man die eigene Kindheit, die Herkunft nie los? Welche Dämonen, welche Schrecknisse bannt Norbert Gstrein schreibenderweise? »Ich lade die Figuren mit einer spezifischen Verrücktheit auf, die gar nicht unbedingt direkt aus meiner Biografie, aber im weiteren Sinn aus meiner Herkunft kommt, und lasse sie auf die Welt los. Es sind Hotelierssöhne mit sehr dominanten Vätern, und ich schaue ihnen zu und denke, der und der könnte ich auch sein oder bin ich vielleicht sogar oder muss ich nicht sein. Sie machen weite Bewegungen hinaus in die Welt, aber wenn sie in den Spiegel blicken, blickt ihnen kein anderer entgegen, sondern immer nur sie selbst. Dafür, dass man die Herkunft nicht los wird, sorgen im Zweifelsfall schon die anderen, die einen daran erinnern, wer man ist oder wer man für sie sein soll, wenn man es vielleicht fast schon vergessen hat, und mit dem Schreiben kann man Dutzende von Spuren und Fährten legen, die meisten davon falsch, und sie gleichzeitig wieder verwischen.«
Gibt es, trotz allem, auf Erden Schöneres, als ein Mensch zu sein? Was hat der Mensch den Göttern voraus? Die Sehnsucht bleibt, damals wie heute. »Vier Tage, drei Nächte« ist der vielleicht verrückteste, traurigste, aber auch tröstlichste Gstrein bisher. Ein Buch voller Verschwindens-, Auslöschungs- und Davonlaufenswünsche – wie maßgefertigt für unsere Zeit und doch weit darüber hinausweisend. Glasklar, präzise, abgründig und mit ungeheuer schönen, starken Bildern, die noch lange fortleben.