... jedoch. An diesem Tag treffen die Toronto Raptors in Orlando auf die Magic, es ist zu diesem Zeitpunkt ein Mittelfeld-Duell in der Eastern Conference. „Als ich in diesem Spiel gleich meinen ersten Wurf getroffen habe, wusste ich, dass ich an dem Abend gut drauf bin“, erklärt der vermeintliche Ausreißer der eingangs erwähnten Aufzählung im Anschluss an den 123:108-Sieg seines Teams. Ein Meister des Understatements, blickt man auf den Statistikbogen der Partie.
Vince, DeMar, Ross
Denn dieser weist neben dem Namen Fred VanVleet sage und schreibe 54 Punkte sowie elf getroffene Dreier in 37 Minuten Spielzeit auf. Nur drei Mal verfehlt der kräftige Guard in der Partie gegen Orlando von Downtown, verpasst so den Raptors-Franchise-Rekord für getroffene Dreier in einem Spiel denkbar knapp (Donyell Marshall hatte im Raptors-Jersey 2006 zwölf Dreier in einem Spiel eingenetzt). Die 54 Punkte stellen jedoch trotzdem eine Bestmarke in der Geschichte der kanadischen Franchise dar, einzig Vince Carter, DeMar De-Rozan und Terrence Ross waren für die Dinos einst 50 oder mehr Punkte gelungen (siehe Kasten). An VanVleets Career High kam jedoch niemand heran. Fast noch beeindruckender: In derselben Partie legt der gerade mal 1,85 Meter große VanVleet zudem noch drei Steals und drei Blocks auf – was in Kombination mit 50 Punkten in der Geschichte der gesamten Association eben nur „MJ“, Hakeem, Dirk und „AD“ gelungen waren.
„Gratulation an meinen Bruder Freddy V“, twitterte Raptors-Legende DeRozan (aktuell San Antonio Spurs) im Anschluss an die Partie. „Kyle, der alte Sack, hat es nicht geschafft“, schreibt er scherzhaft über seinen besten Kumpel Kyle Lowry. „Ich bin froh, dass du es geschafft hast, Champ! Ich hab‘s dir immer gesagt!“ Dem stimmt VanVleet, darauf angesprochen, nicht zwingend zu. „Wenn ich in einem Spiel mal 30 oder 34 Punkte erziele, bekomme ich normalerweise eine Nachricht von DeMar, warum ich es nicht geschafft hätte, seinen Rekord zu brechen. Das hatte ich definitiv im Kopf, als ich auf die 50 Punkte zusteuerte“, erklärt er. Egal, von wo er abdrückt, an diesem Abend des 2. Februar ist alles möglich für „Freddy V“. Insgesamt verfehlt er nur sechs seiner 23 Würfe, von der Freiwurflinie versenkt er alle neun Versuche.
Geborener Anführer
Keine Frage: Es muss sich irgendwie alles gerade wie im Traum anfühlen für Fred VanVleet. Im NBA-Draft 2016 noch von keinem der 30 Teams ausgewählt, hat er sich durch eine in der vergangenen Offseason unterschriebene Vertragsverlängerung in Toronto (vier Jahre, 85 Millionen Dollar) zum bestbezahlten, nicht gedrafteten Spieler in der Geschichte der Association gemausert. „Bet on yourself“, schrieb der 27-Jährige nach Bekanntwerden der Vertragsdetails auf seinen Social-Media-Kanälen. Was er damit meint: Glaube an dich, auch wenn es sonst niemand tut. Ein Satz, wie er nicht besser zu Fred VanVleet passen könnte. Denn dafür, was passieren kann, wenn man den Glauben tatsächlich nie verliert, dient er selbst als das allerbeste Beispiel.
Am 25. Februar 1994 in Rockford, Illinois, geboren, entdeckt VanVleet seine Liebe für Basketball früh. An der in seiner Heimat ansässigen Auburn High School – nicht zu verwechseln mit dem College-Powerhouse Auburn im US-Bundesstaat Alabama – läuft er von 2010 bis 2012 auf, geht nebenbei noch für Rockford in der AAU (Amateur Athletic Union, eine Amateursportliga in den USA) auf Korbjagd. Schnell flattern Angebote von Teams aus Chicago in den Briefkasten des auf dem Court früh mit Leadership überzeugenden VanVleet – dieser bleibt seinem Team in Rockford jedoch treu. „Was meine spätere Rekrutierung ausmacht, glaube ich nicht, dass es einen Unterschied macht, ob ich hier oder in einem angeseheneren Team spiele. Solange Coaches sehen, dass du ein Anführer bist, ist es egal, mit wem du zusammenspielst“, sagt „FVV“.
Nach seiner Senior-Saison, in VanVleet seine High School zu einer Siegesserie von 22 Spielen in Folge führt, erhält er Angebote von Colleges wie Northern Illinois, Detroit oder Wichita State – namhafte Schulen wie Kansas, Duke oder Kentucky werden bei ihm nicht vorstellig. Der Grund: Weder hatte sich „Freddy V“ auf höchstmöglichem AAU-Level bewährt, noch machten ihn seine Körpermaße von 1,85 Metern und 89 Kilogramm zu einem „Sure Shot“ für das nächste Level. So entscheidet er sich für Wichita State, ein College, dessen berühmteste Absolventen Antoine Carr (1983 gedraftet, 16 NBA-Saisons) oder Xavier McDaniel (1985 gedraftet, 13 NBA-Saisons) heißen – noch nie gehört? So geht es wahrscheinlich den meisten Basketballfans.
VanVleet zeigt jedoch früh, dass er willens ist, der Liste späterer NBA-Profis aus Wichita State noch einen Namen hinzuzufügen. Sitzt er in seiner Freshman-Saison 2012/13 noch größtenteils auf der Bank, übernimmt er in seiner zweiten Spielzeit das Ruder bei den „Shockers“. Der Point Guard führt seine Uni zur ersten 34:0-Bilanz der Schulgeschichte, brilliert während der „March Madness“ gegen Top-Colleges wie Indiana (27 Punkte) und Kansas (17 Punkte), was ihn auf den Nationalen Radar bringt. Vor seinem dritten Jahr wird VanVleet im ESPN-Ranking der besten College-Spieler auf Rang fünf geführt.
Auf All-Star-Niveau
Mit dem Senior-Jahr geht eine extrem beeindruckende College-Karriere zuende – in der VanVleet auf dem Court keine Fragen nach seiner Eignung für das nächste Level offen lässt. Dennoch ereilt ihn das gleiche Schicksal wie viele Senior-Guards in den vergangenen Jahren: Sie gelten als zu alt (als er das College verlässt, ist VanVleet „schon“ 22) und nicht mehr entwicklungsfähig, zudem sprechen Scouts „FVV“ die Maße ab, um auch in der NBA zu bestehen. Das äußert sich vor allem am Draft-Abend 2016.
„Freddy V“, der sich selbst als klares Erstrunden-Talent sieht, erhält lediglich zwei Angebote von Teams, die ihn in der zweiten Runde draften wollen – um ihn für zwei Jahre und vergleichsweise läppische 20.000 US-Dollar in der NBA Development League (heutige G-League) zu parken. Keine zufriedenstellende Ausbeute für den bulligen Guard, der, wie eingangs erwähnt, im Anschluss auf sich selbst setzt und einen Roster-Spot im Summer League-Team der Toronto Raptors ergattert. Obwohl die Rotation auf Point Guard mit Starter Kyle Lowry, Backup Cory Joseph und Talent Delon Wright schon sehr gut besetzt ist, setzt sich VanVleet durch und ergattert den finalen Roster-Spot für die NBA.
Als „Bewacher“ von Stephen Curry hatte VanVleet maßgeblichen Anteil am Titelgeweinn 2019.
2017 gewann VanVleet mit den Raptors 905 die Meisterschaft in der NBA GLeague.
Trotz gelegentlicher G-League-Auftritte für die Raptors 905 nimmt die breite Öffentlichkeit spätestens in diesem Moment Notiz von VanVleet. In seinem zweiten Jahr hat er sich einen festen Platz in der Rotation des einzigen kanadischen NBA-Teams erspielt, trifft in der Regular Season einen Game-Winner, der den Raptors als erstem Team die Playoff-Teilnahme sichert – und erhält sogar Stimmen für den „Sixth Man of the Year“-Award. Die Krönung seiner bisherigen Karriere folgt dann in Jahr drei – an der Seite von Kawhi Leonard holt er seinen ersten NBA-Titel und erhält obendrein noch die zweitmeisten Stimmen bei der Wahl zum Finals-MVP.
Und dass ein einst im Draft verschmähter 26-Jähriger doch noch massig Entwicklungspotenzial besitzt, demonstriert „FVV“ in der aktuellen Spielzeit eindrucksvoll – nicht nur dank seiner 54 Punkte gegen die Orlando Magic. Auch am defensiven Ende des Parketts hat der bissige Guard einen weiteren Schritt nach vorne gemacht, verteidigt aktuell auf All-Star-Niveau. Vielleicht der nächste Schritt in der Karriere von Fred VanVleet. Denn das alles möglich ist, wenn man hart genug arbeitet, dafür ist er selbst das beste Beispiel.
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