... Niederschlesien, über Landstraßen, Feldwege, durch kleine Orte bis nach Křižovatka in Tschechien, früher Klinghart im Egerland. „Ich gehe einfach drauflos und schaue, was mir begegnet.“ Ihr Plan ist, keinen Plan zu haben.
Im Treck mit 50 Wagen
„Meine Großmutter und mein Vater konnten sich damals auch nicht vorbereiten“, sagt Hoffmann im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Journalistin, erste stellvertretende Regierungssprecherin in Berlin, ist die Route ihres Vaters nachgegangen und hat ein Buch darüber geschrieben (siehe Buchtipp). Ihre Geschichte steht exemplarisch für die Lebenslinien unzähliger anderer: Von 1944/45 bis 1950 waren 12 bis 18 Millionen Deutsche von Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten betroffen – die Schätzungen von Historikern variieren hier. Sie f lohen vor der Roten Armee.
Als die Russen an die Oder vorrückten, befahl der Bürgermeister von Rosenthal, das Dorf innerhalb von einer Stunde zu verlassen. Die Männer und Jungen zwischen 16 und 60 waren bereits fort – im Krieg. Hoffmanns Großmutter reihte sich samt Gespann in den Treck mit 50 Wagen und 300 Einwohnern ein, als der ihren Hof passierte. Ihr Junge musste laufen.
Zwiegespräch mit dem Vater
Auch Hoffmann geht den Weg zu Fuß. Zurück in die Vergangenheit. Warum allein? „Man sieht und erlebt viel mehr, weil man nur auf die Welt bezogen ist.“ Allerdings, so schränkt sie ein: „In Wahrheit hat mich mein Vater begleitet – ich bin immer wieder im Zwiegespräch mit ihm gewesen.“
Hoffmann weiß, wie weit der Weg ist, der vor ihr liegt. Ihr Vater wusste es nicht. „Drei Tage, länger würden sie nicht weg sein, hatte man ihnen gesagt“, erzählt sie. „Das glaubten nicht alle. Aber die wenigsten ahnten, dass sie nie zurückkehren würden, dass es der brutalste Bruch im Leben war, den sie sich vorstellen konnten.“
Olbendorf, Reichenbach, Greiffenberg. Der Treck zog langsam dahin. 15 bis 20 Kilometer am Tag. Der Lärm des Kriegs verfolgte die Flüchtlinge. Die Kälte kroch an ihnen hoch. Sie übernachteten in Dörfern bei Bauern auf Strohsäcken oder blankem Boden und wärmten sich in der Küche auf. Die Menschen waren hilfsbereit.
Hoffmann wandert bis zu 30 Kilometer am Tag. Vorbei an Hausruinen mit schwarzen Fensterlöchern, verlassenen Höfen mit eingestürzten Dächern, verfallenen Herrenhäusern. „Als sei der Krieg gerade erst vorbei“, so Hoffmann. Sie stapft durch tiefe Pfützen, versackt in morastigem Boden, verheddert sich in Brombeersträuchern. Der Wind bläst ihr entgegen, peitscht ihr Regen und Hagel ins Gesicht. „Ich habe Nackenschmerzen, Blasen an den Füßen, ich friere – und werde immer leerer, je länger ich einsam durch die Winterlandschaft laufe“, sagt sie. „Ich glaube, ich musste dieses Familienschicksal aus mir, aus meinem Körper herauslaufen.“ Ans Umkehren denkt sie nie. Das konnten ihre Großmutter und ihr Vater schließlich auch nicht.
Zu Tode erschöpft
Wenn Hoffmann in jene Dörfer kommt, in denen der Treck einst rastete, fragt sie nach Zeitzeugen. „Die Menschen sind extrem offen. Nach einem kurzen Moment des Misstrauens werde ich sofort freundlich aufgenommen, in die Wohnstube oder Küche gebeten, mit Kaffee und Kuchen bewirtet“, sagt sie. „Es gibt auch viel Verständnis dafür, dass da jemand auf der Suche nach der Familiengeschichte unterwegs ist.“
Wer erinnert sich noch? Stasia, die alte weißhaarige Frau, war damals 17 und Zwangsarbeiterin. Als sie und ihre Familie zurück in die Ukraine wollten, wurden sie nach Rosenthal geschickt. Dort standen viele Häuser leer. Sie suchten sich selbst eines aus. Auch sie dachten damals, sie würden nicht lange bleiben. „In diesem Landstrich wurde die Bevölkerung praktisch komplett ausgetauscht“, so Hoffmann. „Die Menschen, die seitdem da leben, wurden genauso von der Geschichte herumgeschubst wie meine Familie.“