... ist von der Adria aus schwer zugänglich. Die „muri salati“ (Salzmauern) des Lagunenwassers schützen besser vor Feinden als Mauern aus Stein, sagt man damals. Aus dem Meer gewonnenes Salz, „weißes Gold“, ist das erste Exportgut der Siedlung, die auf Fundamenten aus in den Boden getriebenen Holzpfählen erwächst. Der Fischfang sichert die Grundversorgung der Bewohner.
Italien gehört seinerzeit zum Oströmischen bzw. Byzantinischen Reich. Venedigs Geschichte beginnt als Provinzstadt, die den Kaisern im fernen Byzanz (Konstantinopel) Steuern zahlen muss und durch deren Beamte regiert wird. Doch die Stadt im Wasser löst sich aus der Abhängigkeit. 726 tritt der erste Doge sein Amt als Venedigs gewähltes politisches Oberhaupt an und beginnt mit dem Ausbau einer Kriegsflotte – auf die Byzanz in den folgenden Jahrhunderten dankbar zurückgreifen wird: Das Oströmische Reich sieht sich mit angriffslustigen Eroberern konfrontiert, etwa Sarazenen in Süditalien oder Normannen auf Sizilien. Da mag man sich nicht auch noch mit den Untertanen an der Adria anlegen und entlässt sie in die Selbstverwaltung. Für seine Unterstützung zur See handelt der stato da mar (Meeresstaat) vergünstigte Zolltarife und weitere Handelsprivilegien aus. Das Prinzip „Geben und Nehmen“ prägt den Aufstieg zur Seehandelsmacht. „Venedig hat die Kunst der Diplomatie in Europa entwickelt“, konstatiert der Historiker Volker Reinhardt im Gespräch mit HÖRZU WISSEN.
Venedig hat Staatsräson praktiziert, bevor dieser Begriff erfunden wurde.“
Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit
Ein Reich ohne Könige: Venedigs noble Verfassung
Auch nach innen beweist Venedig Geschick: mit einer Verfassung, die Stadt und Staat über Jahrhunderte erstaunliche Stabilität verleiht. Venedig ist nie Königreich, sondern stets Republik.
„Es gibt demokratische Anklänge, obwohl es natürlich insgesamt eine rigoros aristokratische Konstitution war“, sagt Reinhardt. „Das komplexe System funktionierte, weil es sich immer auf einen gewissen Gruppenkonsens stützen konnte. An der Spitze steht eine kleine Gruppe von Personen aus einer übersichtlichen An- zahl von Familien. In der Republik haben vielleicht sieben, acht Dutzend Personen zeitweise wirkliche Macht ausgeübt – Betonung auf zeitweise.“ Denn während der Doge auf Lebenszeit bestimmt wird, zirkulieren die meisten Ämter und Funktionen schnell. Kein Einzelner, keine Familie soll übermächtig werden.
Das demokratische Element ist der Große Rat (maggior consiglio, später: Senat), der aus Patriziern über 25 Jahren besteht – etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Wahlmänner aus diesem Parlament ernennen den Dogen. Der Regierungssitz wird ins geschützte Innere der Lagune verlegt, auf eine Inselgruppe namens Rivus altus (hohes Ufer). Daraus entsteht der Name Rialto, aus dem Siedlungskern um den Dogensitz das heutige Venedig.
Der Legende nach „entführen“ 828 zwei venezianische Kauf leute die Gebeine des Evangelisten Markus aus dem ägyptischen Alexandria. Noch im selben Jahr wird die erste Markuskirche geweiht (später durch den Markusdom ersetzt) und das Symbol des Schutzpatrons, der Markuslöwe, zum Wappentier.
Fortan nennt sich Venedig „La Serenissima Repubblica di San Marco“, die durchlauchtigste Republik des heiligen Markus. Der Markusplatz mit dem Dogenpalast, Macht- und Prachtzentrum, ist deren Visitenkarte.
1177 richtet La Serenissima gar einen Friedensgipfel aus. Mit jetzt etwa 70.000 Einwohnern ist die Stadt auch den logistischen Anforderungen gewachsen, als die höchsten Autoritäten des christlichen Abendlandes und ihre Gefolge aufeinandertreffen. Der römisch-deutsche Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, war gegen Norditalien gezogen, um die „überheblichen“ Kommunen – inklusive Venedig – an ihre (Steuer-)Pf lichten zu erinnern. Papst Alexander III., der auf die Vormachtstellung des Kaisers wenig Wert legt, unterstützt das Verteidigungsbündnis. Nach zähen Kämpfen unterliegt Barbarossa in der Schlacht, der „Frieden von Venedig“ wird verhandelt.
Mächtige Kaufleute, von Europas Adel verachtet
Ein glorreicher Meilenstein in der Außenwirkung der stolzen Republik. Denn: „Die Venezianer waren nicht beliebt in Europa“, sagt Volker Reinhardt. „Venedig war immer eine sehr wohlhabende soziale Gemeinschaft, das erzeugte Neid und Ressentiments.“ Noch dazu handelt es sich um eine Kaufmannsaristokratie. „In der Regel wird Adel mit Feudalismus gleichgesetzt, also mit Grundbesitz und der Herrschaft über Bauern. Die Venezianer waren aber städtische Adlige, Großhändler, die von den ,echten‘ Adligen Europas, Grafen und Herzögen, nicht akzeptiert wurden“, erläutert der Experte, der zu den Autorinnen und Autoren von „La Serenissima“ (siehe Buchtipp Seite 89) zählt.
Selbstverständlich gibt es immer wieder Bestrebungen, das Dogen-amt innerhalb der Familie weiterzugeben, also in eine Erbmonarchie umzuwandeln. Alle wurden zerschlagen und geahndet. „Die Kunst der venezianischen Staatsführung bestand darin, auch den kleinen Leuten zu suggerieren: Ihr gehört dazu, ihr habt Anteil“, sagt Volker Reinhardt. „Gerade Handwerker und Ladenbesitzer verwalteten sich weitgehend selbst. Die mächtigen Clans wussten, dass sie abgeben müssen, wenn sie ihre P rivilegien behaupten wollen.“
Plündern für die Republik: Kreuzzug gegen Byzanz
Zum Aufstand kommt es im 14. Jahrhundert, als Reaktion auf ein miserables Pandemie-Management. Handelsschiffe aus dem Osten bringen den „Schwarzen Tod“ in die Stadt, doch Venedig ergreift keine Lockdown-Maßnahmen. Die Pest rafft ein Drittel der Einwohner dahin.
Die günstige Lage am Nordrand der Adria hat Venedig zur Drehscheibe für den Handel zwischen Abend- und Morgenland gemacht, zum Umschlagplatz für Waren aus dem Orient. Mit einem buchstäblich abwegigen Kreuzzug gewinnt die Stadt 1204 weiter an Boden. 1202 folgen französische Ritter dem Aufruf zum Vierten Kreuzzug, diesmal wollen sie den Seeweg nehmen. Die benötigte Flotte wird in Venedigs berühmter Werft Arsenal in Auftrag gegeben. Als die Schiffe bereitliegen, kommen jedoch nur Bruchteile des Kaufpreises und der erwarteten Kreuzfahrer zusammen.
Der greise Doge Enrico Dandolo, seit Langem mit Byzanz im Streit, hat das Sagen. Und so steuern die Kreuzfahrer nicht das Heilige Land an, um „Ungläubige“ zu vertreiben, sondern plündern Byzanz. Zu den erbeuteten Schätzen gehören auch die Pferde von San Marco: Die Bronzequadriga ziert das Hauptportal des Markusdoms.
Mit der Eroberung des byzantinischen Kaiserreichs sichern sich die Venezianer das Monopol für den Ost-West-Handel, Dandolo beansprucht Küstenregionen und Inseln im östlichen Mittelmeer. So unrühmlich der Angriff von Christen auf Christen auch sein mag: „Venedig hat Staatsräson praktiziert, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden wurde. Alles, was der Republik nützte, war erlaubt“, erklärt Volker Reinhardt. „Anders als europäische Monarchien haben die Venezianer ihre rücksichtslose Machtpolitik aber als Gruppe, als Kollektiv betrieben: Die res publica – die öffentliche, gemeinsame Sache – rangiert vor Eigeninteressen. Insofern war 1204 ein goldenes Jahr für die Venezianer. Sie besetzten dann eine große Zahl von griechischen Inseln und gründeten Handelskolonien. An einer f lächendeckenden Herrschaft über Land und Leute war Venedig nie interessiert.“
Ein schlagkräftiger Feind bedroht das Seereich
Der Kollektivgedanke spiegelt sich auch bei der Organisation wider: Handelsreisende schließen sich in Bruderschaften (fraterna) zusammen, Mitglieder sind oft Verwandte. Venedigs namhafteste fraterna ist die Familie Polo: 1271 bricht Marco Polo mit Vater Niccolo und Onkel Matteo nach Asien auf. Seine Reisen führen ihn bis an den Hof des mongolischen Kaisers von China, Kublai Khan.
Im Mittelalter erstreckt sich das venezianische Seereich von Oberitalien über die Adriaküsten bis in die Ägäis und ins östliche Mittelmeer, umfasst zeitweise Kreta, Zypern sowie Besitzungen auf dem oberitalienischen Festland, der Terra ferma. Doch Mitte des 15. Jahrhunderts steht Venedig im Osten einer neuen Weltmacht gegenüber: dem Osmanischen Reich. 1570 erobern die Osmanen Zypern, der Sieg in der gewaltigen Seeschlacht bei Lepanto (Griechenland) 1571 ist ein letzter Höhepunkt der venezianischen Militärgeschichte.
„Venedig behauptet sich beachtlich, muss aber nach und nach wichtige Besitzungen aufgeben“, so Reinhardt. „Eine militärische Großmacht ist Venedig ab dem 16. Jahrhundert nicht mehr, hat aber als einziger Staat Italiens noch eine gewisse Bedeutung – vor allem kulturell. Auch im 18. Jahrhundert beweist Venedig durchaus Anpassungsfähigkeit an gewandelte Verhältnisse. Dass man vor der Armee von General Napoleon Bonaparte kapituliert, ist ein Akt der Vernunft und kein Zeichen für die innere Schwäche dieser Republik. Napoleon hat von 1796 bis 1810 fast ganz Europa besiegt!“
1797 besetzen französische Soldaten Venedig und setzen der Unabhängigkeit ein Ende. 1805 wird die Stadt dem von Napoleon geschaffenen Königreich Italien zugeschlagen, 1815 dann Lombardo-Venetien unter Habsburger-Herrschaft.
Aufstieg zur glamourösen Kulturmetropole
Die Markusrepublik mag Geschichte sein, als Kulturmetropole aber hat Venedig längst Rang und Namen errungen. „Gerade im angeblich so dekadenten 18. Jahrhundert entfaltete Venedig durch Malerei, Dichtung und vor allem die Oper eine Strahlkraft, wie sie kaum ein anderer Staat Europas jemals besessen hat“, so Reinhardt. Spannende Einblicke in die Ära der zum Sündenpfuhl umgedeuteten „libertà“ liefern die Memoiren des legendären Venezianers Giacomo Casanova (1725 – 1798), allzu oft auf amouröse Abenteuer reduziert.
Ab den 1870er-Jahren entwickeln Lokalpolitiker Pläne zur Trockenlegung der Lagune, das viele Wasser behindere den Fortschritt. Zwar werden mehrere Kanäle zugeschüttet und Industriezonen auf dem Festland geschaffen. Venedigs Einzigartigkeit, die besonders im Winter eine morbide Romantik ausstrahlt, bleibt jedoch erhalten. 1907 werden bereits 3,5 Millionen Touristen gezählt. Der glamouröse Badeort Lido mit dem (2010 geschlossenen) Grand Hotel des Bains inspiriert Thomas Mann zu seiner Novelle „Der Tod in Venedig“.
Am Lido, nur eine kurze Bootsfahrt von der Altstadt entfernt, werden seit 1932 auch die Filmfestspiele ausgerichtet. Hollywood und der Jetset kommen. Durch den stetigen Ansturm von Kreuzfahrtschiffen und den Klimawandel steigt das Wasser in den schönsten Straßen der Welt unaufhaltsam. Nach 1600 Jahren ist die „Perle der Adria“ letztlich doch dem Untergang geweiht.
ULRIKE SCHRÖDER
Die wichtigsten Ereignisse im Überblick
421
GRÜNDUNG laut Chronik des Venezianers Martino da Canale
726
Wahl des ERSTEN DOGEN Orso Ipato (auch: Ursus)
828
Venezianer rauben die RELIQUIEN des heiligen Markus aus Alexandria
998 – 1001
Eroberung DALMATIENS
1094
Der MARKUSDOM wird fertiggestellt
1162
Sieg über AQUILEIA, bedeutende Handelsstadt des Römischen Reichs
1177
FRIEDEN von Venedig
1202 – 04
VIERTER KREUZZUG und Eroberung Konstantinopels
1271
MARCO POLO reist nach China
1310
ADELSAUFSTAND zur Einführung einer Erbmonarchie
1348
Pandemie in Europa: Die PEST wütet
1446
In der Schlacht von CASALMAGGIORE besiegt Venedig das Herzogtum Mailand
1498
Der SEEWEG NACH INDIEN ist erschlossen
1591
Eröffnung der RIALTOBRÜCKE
1645
Der KRIEG UM KRETA beginnt
1725
Geburt von CASANOVA
1792
Eröffnung der Oper TEATRO LA FENICE
1797
Napoleons Heer BESETZT Venedig
1846
Der erste ZUG überquert den Bahndamm zum Festland
1855
Am Lido eröffnet die erste BADEANSTALT
1866
Anschluss an das junge KÖNIGREICH ITALIEN
1881
Das erste VAPORETTO „Regina Margherita“ läuft vom Stapel
1895
Erste KUNST-BIENNALE
1917
Venedigs INDUSTRIEHAFEN Marghera entsteht
1932
Premiere der FILMFESTSPIELE
1949
PEGGY GUGGENHEIM kauft Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande
1966
HOCHWASSER mit Rekordwasserstand von 194 cm