... sitzt, denkt sich Yvonne, 38, Projektleiterin in einer Düsseldorfer Eventagentur: „Warum habe ich nichts gesagt? Mich wieder einmal in dieser wichtigen Konferenz überrumpeln lassen?“ Doch im Stillen baut sich die 38-Jährige, die ihr Studium der Marketingkommunikation seinerzeit besser als die Mehrheit ihrer männlichen Mitstudenten abgeschlossen hat, schon bald wieder auf: „Abgehakt. Nach Hause. Die Lieblings-Soul-CD aufgelegt. Ruhe finden. Das ist ganz elementar für mich nach solch einem Tag.“
Die erfolgreiche Managerin arbeitet in einer ausgeprägt kommunikativen Branche, trifft viele Menschen, organisiert Partys, Firmenevents oder Modenschauen. Sie steht dann stark im Mittelpunkt, obwohl sie eher der stille, in sich gekehrte Typ ist. Yvonne zählt klar zur Gattung der introvertierten Menschen. Das ist ihr richtig bewusst geworden worden, als sie vor fünf Jahren einen Coach zu Hilfe gezogen hat. Eigentlich, um ihre Redetechnik zu optimieren. Doch im Laufe der Beratungsstunden wurde ihr klar: Während sie immer wieder Probleme hat, sich vor anderen gut zu verkaufen, kommen ihr die besten Ideen, wenn sie in ihrem Büro allein ein paar Stunden konzentriert arbeiten kann. Oder in ihrer Freizeit im Kreis ihrer langjährigen Laufgruppe, darunter einige enge Freundinnen: Da hört man ihr zu, und da blüht sie auf. Da wirkt sie empathisch und organisiert mit Elan den nächsten Wochenendtrip.
Introvertiert ist keineswegs mit schüchtern zu verwechseln. Bei stilleren Menschen wie Yvonne gibt es vielmehr öfter das Bedürfnis, sich auf sich selbst oder in einen kleinen, vertrauten Kreis zurückziehen zu wollen. Und sie entwickeln andere Fähigkeiten als extrovertiert tickende Menschen. Diese sind jedoch nicht weniger wertvoll für die Gesellschaft. Und sie schränken auch keineswegs das persönliche Glücksempfinden ein.
„Introvertiert sein heißt ja nicht, dass man nicht mit Worten und Menschen umgehen kann“, sagt Sylvia Löhken. Die Kölner Kommunikationsberaterin hat sich darauf spezialisiert, stille Menschen zu coachen, ihre Stärken hervorzukehren. Das tut sie in Ratgeberbüchern und auch in Workshops, in denen sie ihre eigene Vita stark miteinbringt. Sie bezeichnet sich selbst mit einer feinen Selbstironie als„Intro“: „Ich muss meinen Tag so verbringen, wie er zu meiner Persönlichkeit passt, und das bedeutet, dass ich auch Zeit zum Regenerieren brauche. Bei Seminaren wäre es für mich anstrengend, abends mit den Teilnehmern noch ein Bier zu trinken. Ich bin dann lieber allein im Hotel, um neue Energien zu tanken. Für viele‚Extros‘ wäre das der Horror.“
Kein Mensch ist nur introvertiert oder extrovertiert. Beide Wesenszüge stecken in uns
Intro oder extro? Lieber laut oder leise? Eher temperamentvoll als zurückhaltend? Diese Gegenpole, egal wie man sie gewichtet, begegnen uns immer wieder. Im Alltag, im Berufsleben, nicht zuletzt bei der Partnersuche und in Beziehungen. Ist unser Charakter von Geburt an fest geprägt? Gilt nur das eine oder das andere? Können wir nicht beide Seiten in uns tragen und ausleben?
„Im Kern trägt jeder Mensch die eher introvertierte oder extrovertierte Neigung als Erbgut in sich, und das verändert sich dann auch nicht mehr wesentlich“, so Fritz Ostendorf, Psychologe an der Universität Bielefeld. Man könnte auch etwas differenzierter sagen: Es gibt sicher keine Person, die ausschließlich intro oder extro ist. Anteile von beiden Wesenszügen stecken in jedem von uns. Bestimmt werden sie von den Strömungen unseres Nervensystems, und alle Forschungen gehen letztlich auf das zurück, was der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, ein Mitstreiter Sigmund Freuds, Anfang der 1920er-Jahre erstmals mit dem Begriff „Introversion“ anstieß. Seitdem existiert in der Psychologie die Unterscheidung zwischen der Energie, die sich nach innen wendet, und der, die sich in temperamentvollen Auftritten oder Risikobereitschaft widerspiegelt.
Durch Erziehung oder auch bestimmte soziokulturelle Erfahrungen dürften sich bestimmte Eigenschaften im Laufe des Lebens durchaus verstärken oder abschwächen. Dass man einen Partylöwen jedoch gänzlich zum scheuen Kuschellamm umpolt – oder umgekehrt: eher unwahrscheinlich. Beraterin Sylvia Löhken, Autorin des Buches „Leise Menschen – gutes Leben“, sagt: „Man sollte auch ein Kind so annehmen, wie es ist. Allerdings kann man als Intro lernen, seinen Aktivitätsradius zu erweitern. Ich selbst habe so einen Sohn. Ich habe mit ihm von der Grundschule an eingeübt, dass er sich mit dem Wissen, dass er gut vorbereitet ist, vor jeder Stunde vornimmt, sich dreimal zu melden. Heute hat er keine Probleme bei der mündlichen Mitarbeit.“
Die beste Rede oder Performance ist nicht immer automatisch auch der beste Vorschlag
Die Welt gehört nicht allein den Lauten. 30 bis 50 Prozent aller Menschen, so wissenschaftliche Schätzungen, sind eher introvertiert veranlagt. Das ist kein Minderheitenstatus. Obwohl in der öffentlichen Wahrnehmung das Kräfteverhältnis oft verrutscht wirkt: Im Wirtschaftsleben setzt sich am Konferenztisch oft genug noch der Lautere durch, auch wenn er dünne Ideen mit Blendwerk gut kaschiert. Und in Fernsehshows wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Die Höhle der Löwen“ wird einem jungen Publikum quotenstark vorgeführt: Wenn du etwas erreichen willst, musst du aus dir herauskommen. Auch mal dick auftragen. Nicht zu leise sein.
Angela Merkel regiert uneitel mit ruhiger Hand – und hat damit seit 14 Jahren Erfolg
Die beste Rede oder Performance ist jedoch nicht immer auch der beste Vorschlag. Und was zurückhaltende Menschen letztlich an Eigenschaften freisetzen, hat enorm viel Substanz.Intros punkten nicht nur mit Ausdauer und kluger Überlegtheit. Sie können in der Regel auch gut zuhören, Empathie und Teamgeist entwickeln. Und davon profitieren Kollegen, Freunde und Partner, letztlich die ganze Gesellschaft.
Kanzlerin Angela Merkel ist auf höchster politischer Ebene der Beweis, dass auch von stillen Menschen eine starke Ausstrahlung ausgehen kann. Seit 14 Jahren regiert Deutschlands mächtigsteIntro -Frau, international hoch angesehen, mit ihrer „ruhigen Hand“: uneitel im Auftritt, oft abwartend, nach kluger Reflexion richtungsweisende Entscheidungen treffend. Wenn man sie mit dem polternden, selbstherrlichenExtro Donald Trump sieht, wirkt die Bundeskanzlerin sehr distanziert. Und in ihren Bewegungen schimmert dann die schüchterne, etwas ungelenke Jungpolitikerin früherer Jahre durch.
Ganz konträr die ausgesendeten Körpersignale bei den Treffen Merkels mit US-Amtsvorgänger Barack Obama: Die beiden Politiker wirken einander zugewandt. Sie lachen herzlich, greifen sich an den Händen, suchen spürbar die Nähe des anderen. Kein Wunder: Auch Barack ist vom Naturell eher zurückhaltend, während seine Frau Michelle viel extrovertierter agiert.
Andere Beispiele für die Macht der Leisen: Der extrem stille Microsoft-Gründer Bill Gates hat durch seine umsichtigen Führungsqualitäten die Medienwelt nachhaltig verändert. Und die dreifache Oscar-Preisträgerin Meryl Streep ist privat eine unprätentiöse, bescheidene Frau, die den Rückzug in ihr Privatleben über alles schätzt, doch vor der Kamera fortlaufend zur unglaublichen Verwandlungskünstlerin wird: Ob aufbrausend oder verletzlich, ob dominant oder verunsichert – auf einer für sie in diesen Moment klar definierten Bühne kann sich Meryl Streep in ganz unterschiedliche Menschen hineinversetzen. „Das ist eine Fähigkeit, die vergessen Extrovertierte oft, weil sie sehr auf sich bedacht sind.“
Barack und Michelle Obama sind ein gutes Beispiel dafür, wie Intros und Extros in einer Beziehung harmonieren und sich gleichzeitig ergänzen und gegenseitig anspornen können. Auch der Schauspieler Christian Berkel, 61, seit mehr als 20 Jahren mit der feurig-roten Kollegin Andrea Sawatzki, 56, liiert, ist ein Anhänger der Gegensätzeziehen-sich-an-Philosophie. Diese hat er auch in seinem biografisch geprägten Romandebüt „Der Apfelbaum“ zum Thema gemacht. Berkel schildert darin das Leben seiner vom Wesen extrem unterschiedlichen Eltern: „Eine solche Beziehung funktioniert, wenn die Gegensätze in einem selbst auch angelegt sind. Natürlich agiert der eine Mensch extrovertierter als der andere. Aber der introvertierte Mensch trägt vielleicht eine Sehnsucht in sich – und sieht sie in seinem Partner gespiegelt.“ Bezogen auf seine eigene Ehe fügt der Schauspieler hinzu: „In Beziehungen finden ständig Verlagerungen statt, und der Gegensatz ist auch eine ständige Herausforderung, an die blinden Flecken in der eigenen Person anzukoppeln.“
Nicht verbiegen – sondern den Kern unserer Persönlichkeit optimal ausschöpfen
Es geht nicht um eine Wertung, welche Eigenschaft besser ist. Extrovertierte können natürlich genauso kreativ wie still vor sich hin brütende Genies sein, nur brauchen sie für ihre Blitze meistens Anreize von außen. Kommunikationsexpertin Löhken: „Die Kunst besteht darin, authentisch zu handeln und den Kern unserer Persönlichkeit optimal auszuschöpfen. Und die Leisen dürfen zum Beispiel nicht denken, dass sie es nur schaffen, wenn sie es genauso machen wie die Lauten.“ Dazu gehört im Berufsleben zum Beispiel, dass die weniger redegewandten oder ins Rampenlicht drängenden Kollegen nicht untergebuttert werden. Teamfähige und vorausdenkende Vorgesetzte sollten vielmehr das Potenzial ihrer verschieden gearteten Mitarbeiter zu nutzen wissen. Da haben am Ende alle etwas davon.
Eventmanagerin Yvonne ist mit sich im Reinen. Mit zwei Tagen Abstand lästerte sie mehr über das mangelhafte Pflegebewusstsein als über den tönenden Auftritt ihres internen Konkurrenten. Ganz ausgeruht hatte sie ihr Veranstaltungskonzept dem Teamleiter via E-Mail zugesandt. Bei der nächsten Konferenz ging der Zuschlag dann an sie, während das Alphatier zerknirscht nach unten auf seine dreckigen Schuhe starrte.