... umgegangen werden soll. Besonders in Grundschulen oder in 5. Klassen sowie zu Beginn eines neuen Schuljahres und bei Übergängen werden die Regeln über unterschiedliche didaktische Konzepte von den Lehrkräften vermittelt.
Ohne Regeln geht es nicht - und ohne Strafen?
Die Praktiken sind Bestandteil ihres pädagogisch-professionellen Selbstverständnisses: »Ohne Regeln geht es nicht«, wird von zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern bei meinen teilnehmenden Beobachtungen und Befragungen betont (Richter 2019). Ganz anders ist dies bei Praktiken des Umgangs mit Nichteinhaltung von Regeln. Hier wird das eigene Handeln als »notwendiges Übel« und als Zusatzbelastung zu den »eigentlichen « pädagogisch-professionellen Aufgaben als Lehrkraft beschrieben. Aufgrund elterlicher Erziehungsversäumnisse oder Schüler*innen mit besonderen Problemlagen hätten Lehrkräfte mit Disziplinproblemen zu kämpfen, statt ihrem Kerngeschäft - dem Unterrichten - nachgehen zu können - so sehen es manche Kolleg*innen. Zudem seien die Praktiken - wie Nachsitzen, Zusatzaufgaben und vor die Klassentür oder in einen Trainingsraum verweisen - keine Strafen, sondern Konsequenzen oder Sanktionen. Dabei scheint bereits das Sprechen über das Thema belastend zu sein. »Mit den Regeln ist es öffentlich schon schwierig, also überhaupt die ganzen Disziplingeschichten «, so eine Lehrerin auf die Frage des Umgangs mit Regeln. Sie wünsche sich mehr Einigkeit und Abstimmung im Kollegium und schulisch geregelte Maßnahmen im Umgang mit Disziplinproblemen, wie die Einrichtung eines pädagogischen Trainingsraumes.
Systematisiert man die Beobachtungen und Aussagen der Lehrkräfte, dann lassen sich zwei unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema »schulische Regeln« unterscheiden, die in Tabelle 1 systematisch zusammengefasst sind.
Doch weshalb wird der Umgang mit der Nichteinhaltung von Regeln oft als Zusatzbelastung wahrgenommen, liegt also jenseits des pädagogisch- professionellen Selbstverständnisses? Weshalb werden die Praktiken so unterschiedlich bewertet? Was macht das Strafen zu so einem schwierigen Thema an Schulen? Ein Blick auf den Bedeutungswandel von Strafen gibt hier Antworten.
Tab. 1: Dimensionen schulischer Regeln
Wandel von Strafen im Kontext von Erziehung - ein Rückblick
Bis Ende der 1960er-Jahre wurden Strafen als ein wichtiges Erziehungsmittel hervorgehoben, und Erziehenden wurde eine Reihe von Anleitungen eines »pädagogisch richtigen Strafens« bereitgestellt. Diese reichten bis hin zu genauen Beschreibungen der pädagogischen Anwendung körperlicher Strafen. In den 1970erund 1980er-Jahren wird das Strafen im Hinblick auf seine psychologischen Wirkungen zunehmend problematisiert. Gefahren und Gefährdungen durch Strafen wie Angst, Widerstand und Aggressivität führten zu der Frage, wie pädagogisch wertvoll solche Maßnahmen sein können. Damit einher geht eine zunehmende Distanzierung von Strafe, was im Übergang zu den 1990er-Jahren mit einer Nichtthematisierung und Tabuisierung einhergeht. Seit knapp 50 Jahren finden sich kaum relevante Beiträge zu diesem Thema, das deswegen heute wie ein Relikt vergangener Zeiten antiquiert und überholt erscheint - als »schwarze Seite« der Pädagogik.
In den 1970er- und 1980er- Jahren wird das Strafen im Hinblick auf seine psychologischen Wirkungen zunehmend problematisiert.
An die Leerstelle sind Verhandlungen um Disziplin getreten, welche zum einen als Voraussetzung für einen geordneten Unterricht und zum anderen als einsichtige und zustimmende Einpassung in die Ordnung als Ziel von Erziehung beschrieben wird, im Sinne von Selbstdisziplin. Die Wege dorthin erscheinen nun aber ungewiss und voller Gefahren. Ins Zentrum rückt die Frage, wie Disziplin hergestellt und aufrechterhalten werden kann ohne den Einsatz von Strafen, also ohne eine erzwungene Anpassung an die Ordnung. Wie lässt sich pädagogisch disziplinieren?
Wie kann Disziplin hergestellt und aufrechterhalten werden ohne den Einsatz von Strafen?
Probleme des Disziplinierens
Die Schilderungen der Lehrkräfte um das Regeln der Regeln lassen sich im Kontext des Wandels von Strafen deuten. Praktiken der Disziplinierung zur Wiederherstellung schulischer Ordnung geraten als möglicherweise repressive Praktiken unter Legitimierungszwang. Als Praktiken des Umgangs mit Nichteinhaltung von Regeln reagieren sie auf nicht erwünschte Verhaltensweisen und stehen damit in engem Zusammenhang zu der Debatte um Strafen. Im Gegensatz zu der aktiven Hervorbringung erwünschten Verhaltens (wie bei der Regelvermittlung) stehen Umgangsweisen mit Nichteinhaltungen von Regeln in ständiger Gefahr, dem Nichtpädagogischen zugeschrieben zu werden.
Folgende Strategien im Umgang mit Problemen des Disziplinierens auf der Grenze zum Nichtpädagogischen lassen sich systematisch zusammenfassen:
1. Auslagerung aus dem Professionsverständnis
Über die Deutung der Praktiken als Kompensation von Versäumnissen Dritter (beispielsweise der Eltern) wird das Handeln aus dem Aufgabenfeld einer Lehrkraft ausgelagert und jenseits des Professionsverständnisses verortet. Als Zusatzbelastung muss es nicht in gleicher Weise begründet werden wie das »eigentliche« pädagogisch- professionelle Handeln.
2. Begriffliche Neuschöpfungen
Über neue Begriffe wie »Konsequenzen « oder »Sanktionen« werden die eigenen Praktiken als pädagogisch ausgewiesen. Mit diesen Begriffen sind (noch) nicht die kritischen Debatten verbunden wie mit dem Begriff Strafe.
3. Einführung von Konzepten und Programmen
Über Maßnahmen und Programme wie der »pädagogische Trainingsraum «, das »Arbeitszimmer« oder die »Bonus-« beziehungsweise »Belohnungsleiter « wird durch die gemeinschaftliche Entscheidung im Kollegium und die feste Implementierung des Konzeptes an der Schule das individuelle Handeln zu einem kollektiven Handeln, was Sicherheit, Orientierung und Schutz bietet. Zudem grenzen sich die Ansätze ebenfalls begrifflich von Strafen ab, denn hier geht es dem Anschein nach um Training, Arbeiten und Belohnung.
Sind Programme wie der Trainingsraum eine Lösung?
Wenn Disziplinprobleme in Schulen verhandelt werden, schwingt das Problem des Disziplinierens mit. Bei den unterschiedlichen Strategien des Disziplinierens muss stets die eigene pädagogische Professionalität mitverhandelt werden, weswegen sie ein gefährliches Terrain darstellen. An diese Stelle treten »Time-Out«-Programme oder Maßnahmen der »Verantwortungsübernahme « wie der pädagogische Trainingsraum. Dass diese zu neuen Problemlagen führen, die häufig im schulischen Alltag unreflektiert bleiben, wird im Folgenden anhand von vier Aspekten veranschaulicht.
Abkehr von einer subjekt- und beziehungsorientierten Pädagogik
Die Programmatiken geben feste Regeln der Anwendung im Umgang mit Unterrichtsstörungen vor, die von allen Lehrkräften eingehalten werden sollen. Dies hat zur Folge, dass an die Stelle einer subjekt- und beziehungsorientierten Pädagogik, in der Lehrkräfte ihr Handeln im situativen Kontext individuell begründen und verantworten, ein anonymes und entpersonalisiertes mechanisches Handeln tritt. Die dahinter liegende Annahme des Funktionierens von Prozessen nach bestimmten Abläufen gilt gerade nicht für pädagogisches Handeln, welches durch Kontingenz und das sogenannte »Technologiedefizit« (Luhmann 2004) gekennzeichnet ist.
Gefahren von Machtmissbrauch
Die Programmatiken bergen zahlreiche Spielräume für Interpretationen: Was wird beispielsweise als Unterrichtsstörung interpretiert? Geht es in der spezifischen Situation um den Schutz oder die Wiederherstellung schulisch-organisatorischer Disziplin oder um die Erziehung zur Selbstdisziplin eines Schülers beziehungsweise einer Schülerin? Oder geht es um die Demonstration von Macht bei gleichzeitig gefühlter Ohnmacht? Individuelle (emotionale) Ausgestaltungen des Programms bedürfen unter dem Gewand der Programmatik keinerlei Legitimation. Sie werden anonym wirksam, womit die Gefahr eines Machtmissbrauches droht. Vor einer pädagogischen Handlung sollte jedoch immer die Frage der pädagogischen Haltung gestellt werden, welche sich an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientieren sollte.
Deprofessionalisierung von Lehrern
Durch das Delegieren der »störenden Schüler*innen« an einen dafür eingerichteten Ort und an eine dafür zuständige Person werden in Schule die Bereiche »Lernen und Unterrichten « von denen der »Erziehung« getrennt, und zwar inhaltlich wie auch personell, einhergehend mit je eigenen Methoden, Lernorten und professionellen Anforderungen. Mit dieser Konstruktion eines alternativen pädagogischen Settings kann eine Deprofessionalisierung von Lehrkräften als Pädagog*innen einhergehen (Budde 2014, S. 109).
Unterrichtsstörung als Devianz
Schließlich manifestiert sich über solche Konzepte oder Programme ein Verständnis von »Unterrichtsstörung «, welches ausschließlich das individuelle Verhalten von Schüler*innen unter der Zuschreibung von Devianz fokussiert. Dem geht die Konstruktion eines an schulisch-normative Erwartungen angepassten Schüler*innen-Verhaltens voraus, welches zur Norm erklärt wird. Die Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung sowie der spezifische situative Kontext bleiben ausgeklammert und werden nicht bearbeitet.
Perspektivwechsel: verstehen statt bewerten
Praktiken des Disziplinierens, Strafens oder Sanktionierens gehen immer mit komplexitätsreduzierenden Bewertungen von Verhalten einher. Es ist jedoch wichtig, multiperspektivische Räume des Verstehens zu öffnen. Dazu ist ein Perspektivwechsel erforderlich.
Anstelle der Fokussierung auf Absicherung durch Handlungsanleitung oder Grenzziehungen sollte die von Unsicherheit und Antinomien gekennzeichnete Komplexität pädagogischen Handelns reflektiert werden. Denn »die Spezifik des Einzelfalles lässt sich keiner abstrakten Regel und keinem technologisierbaren Procedere unterwerfen« (Helsper 1996, S. 530).
Die Einrichtung eines Trainingsraums kann mit einer Deprofessionalisierung von Lehrkräften einhergehen.
Programme wie der pädagogische Trainingsraum oder Belohnungskonzepte sowie andere Praktiken des Disziplinierens, Sanktionierens oder Strafens deuten das Schüler*innenverhalten immer als mangelnde Disziplin mit der Folge von Nichteinhaltung von Regeln. Dieser Deutung liegt die Annahme einer schulischen Norm von Disziplin und einer Erwartung an »normales Verhalten« von Schüler*innen zugrunde. Abweichung wird als Problem interpretiert; sie wird bearbeitet mit dem Ziel einer Anpassung an schulisch-normative Erwartungen.
Bei einer veränderten Perspektive setzt man bereits einen Schritt davor an. Ausgangspunkt sind dann komplexe Konfliktsituationen, in denen die Bedürfnisse von Schüler*innen (beispielsweise nach Kommunikation und Bewegung) mit denen der Lehrkraft (beispielsweise nach Ruhe) und der institutionellen Rahmung (beispielsweise der zeitlichen Rhythmisierung) konkurrieren. In diesem Ausgangspunkt liegt das Potenzial für pädagogisches Handeln. Was sind die Fragen, Bedürfnisse, Interessen und Stärken der jeweiligen Kinder und Jugendlichen? Welche Lern-, Sozialisations- und Bildungsprozesse vollziehen sich in der Schule - auch jenseits des Unterrichts? Und welche Zumutungen birgt das schulische Regelsystem? Schulen sind durch zahlreiche Ordnungen und Regeln ein hochgradig strukturiertes Feld; sie lassen oft nur wenig Spielräume für individuelle Bedürfnislagen von Kindern und Jugendlichen. Selbst menschliche Grundbedürfnisse (wie Toilettengänge, Essen und Trinken) sind zumeist durch Vorgaben geregelt. Mit den Regeln und Vorgaben gehen Normen an und Bewertungen von Verhalten einher. Erst durch die Normanwendung im Zuge eines Bewertungsprozesses wird die Normverletzung zur Abweichung (Becker 1981, S. 12 f.).
Unter Hinzunahme kindheitstheoretischer Perspektiven (Kinder/Jugendliche als kompetente Akteure, die aktiv an ihrer sozialen und persönlichen Entwicklung mitwirken), lerntheoretischer Perspektiven (Lernen als individueller und durch subjektive Erfahrungen gesteuerter Konstruktionsprozess) oder peerkulturtheoretischer Perspektiven (z. B. Kämpfe zwischen Kindern, Toben oder Ärgern als Lernanlässe des Austestens von Grenzen) erscheinen Situationen, die im schulischen Alltag häufig zu Konflikten führen, in einem neuen Licht (Oswald 2008). Lassen sich Lehrkräfte hier auf einen Perspektivwechsel im Sinne eines Verstehens von Verhalten ein, erscheinen Verhaltensweisen wie das Kippeln auf dem Stuhl oder das Tuscheln mit dem Sitznachbarn nicht mehr alleinig als problematisch, sondern sie werden als Ausdruck kindlicher Bedürfnisse nach Bewegung und Kommunikation zu einem normalen Verhalten.
Welche Zumutungen birgt das schulische Regelsystem für die Jugendlichen?
Tab. 2: Verstehen statt bewerten
Über solche Perspektivwechsel lassen sich Zuschreibungen relativieren: Unter welcher Perspektive wird welches Verhalten als Störung und Problem bewertet und warum? Und unter welcher Perspektive hat das als negativ bewertete Verhalten konstruktive Momente? Es geht um Verstehen von Verhalten unter Einbezug situativer Kontexte und theoretischer Perspektiven. Die folgende Tabelle fasst den Wechsel von der Perspektive eines Mangels an Disziplin hin zu einer Konfliktsituation zusammen (siehe Tab. 2).
Pädagogisches Handeln ist unter dieser Perspektive ein Handeln, welches auf die spezifische Situation reagiert und die Perspektive von Schüler* innen sowie theoretisches Wissen über Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse miteinbezieht. Im Zentrum stehen Verstehen und Verständigung darüber, vor welchem Hintergrund ein Verhalten in welchem Kontext zu Ärger und Konflikten führt. Kleine Pausen für Bewegung oder Kommunikation mit den Sitznachbarn können Lösungen im Prozess der Verständigung sein. Dies kann zu Einsichten und neuen Ansichten führen und damit Wege der Kompromissbildung bei Lehrkräften und Schüler*innen eröffnen.
Unter dem Ansatz von Einsicht stellt sich weder für die Lehrkraft noch in der Deutung durch die Schüler* innen die Frage nach Strafen.
Im schulischen Alltag müssen die Voraussetzungen für einen solchen Perspektivwechsel geschaffen werden. In erster Linie betrifft dies die Ermöglichung und Unterstützung von Reflexionen des eigenen pädagogischen Handelns. Voraussetzung hierfür ist die Thematisierung von Strafe im pädagogischen Alltag anstelle von Tabuisierung.
Im Zentrum des pädagogischen Handelns stehen Verstehen und Verständigung.