... Tagesmüdigkeit, Schlafstörungen und Verstimmungen. Arbeitszeiten und Verpf lichtungen geben dem Tag Struktur – laufen aber persönlichen Be dürfnissen häufig entgegen. „Es gibt unterschiedliche und individuelle Hochphasen und Tiefpunkte für das Lernen und das Arbeiten, fürs Essen, für körperliche Aktivität sowie für Ruhephasen“, sagt Dr. Werner Bartens, Mediziner und populärer Wissenschaftsautor (siehe Buchtipp Seite 11). Wer mit den Wechselphasen des Lebens vertraut ist, hat mehr Verständnis für die eigenen Rhythmen, kommt mit sich und den Mitmenschen besser zurecht und lebt gesünder.
Die Zyk len unseres Immunsystems
Zu den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft gehört, dass auch das Immunsystem Aktivitätsschübe im Tagesverlauf sowie innerhalb eines Jahres kennt. Ebenso kleine Auszeiten, in denen wir dann weniger abwehrbereit sind. „Zumeist wird für die Häufung der Atemwegserkrankungen und anderer Infekte im Herbst und Winter das veränderte Sozialleben verantwortlich gemacht. Man hockt in stickigen Räumen, statt Rad zu fahren, alle ballen sich in Bussen und Bahnen“, sagt Werner Bartens. „Doch das ist nicht der einzige Faktor: Auch das Immunsystem macht saisonale Veränderungen durch.“ So werden im Spätherbst und Winter mehr entzündungsfördernde Zellen und Botenstoffe hergestellt. Als Folge entstehen in dieser Zeit leichter Infekte und breiten sich eher aus. Auch die im Winter steigende Zahl an Autoimmunerkrankungen sowie die Zunahme kardiovaskulärer Leiden wird inzwischen mit den Saisonschwankungen des Immunsystems verbunden.
Zeitumstellung meistern
Wie der Wechsel zur Winterzeit in der Nacht zum 31. Oktober gelingt, ohne den Biorhythmus durcheinanderzubringen
Den Wechsel zur Sommerzeit empfinden die meisten als besonders herausfordernd, schließlich wird uns eine Stunde genommen. Doch auch die Rückkehr zur „normalen“ Zeit hat Tücken. Der Winter schlägt mit seinem nasskalten Wetter ohnehin aufs Gemüt, jetzt wird es auch noch eine Stunde eher dunkel. Aber plötzlich eine Stunde früher einschlafen? Nicht so einfach! Das hilft: In den Tagen vor der Umstellung jeweils etwas später ins Bett gehen. Hund und Katze etwas später füttern, damit sie nicht zu früh am Bett stehen. In der ersten Tageshälfte möglichst viel Naturlicht tanken hilft beim Übergang.
Der Nobelpreis für Medizin wurde 2017 für bahnbrechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der jungen Disziplin Chronobiologie vergeben. Sie beschäftigt sich mit den inneren Rhythmen, die sogar in jeder einzelnen Zelle wirken. Die traditionelle chinesische Medizinkunde TCM weiß das schon seit Jahrtausenden: Nach ihrer Vorstellung wechselt der Energief luss im Körper etwa alle zwei Stunden (siehe Grafik nächste Seite). Dr. Bartens zufolge stimmt die Einteilung grob mit aktuellen Erkenntnissen überein. Auf jeden Fall hilft sie bei der Orientierung, um einmal auf den eigenen Körper und seine Bedürfnisse zu achten. Viele kleine Beschwerden bessern sich schon mit etwas Drehen an der Organuhr. So kann bereits ein etwas früheres Abendessen mitunter Schlafprobleme beheben, weil es besser mit der individuellen Körper-Uhr harmoniert.
Sozialer Jet lag durch falsches Schlafen
Wie funktioniert überhaupt diese innere Uhr? Ihr Hauptmechanismus sitzt im Gehirn in Form einer Ansammlung von Nervenzellen. Diese pulsieren im 24-Stunden- Turnus und bestimmen den Takt für viele weitere Uhren, indem sie Signale über Nervenbahnen oder Hormone vermitteln. Jedes Organ, jede Motivation folgt periodischen Zyklen. Doch jeder Mensch tickt nun mal anders. Gut bekannt ist etwa der Unterschied zwischen Langschläfern und Frühaufstehern, den Eulen und den Lerchen (siehe Seite 9 oben), die in der Bevölkerung ungefähr gleich verteilt sind.
Am gesündesten wäre es, seinem persönlichen Rhythmus folgen zu können. Doch Werner Bartens weist darauf hin, dass auch sozialer Stress sich gesundheitlich negativ auswirkt. Wer darauf beharrt, lange zu schlafen, während das Umfeld früh aufsteht, gerät unter Druck und erreicht nicht die angestrebte Harmonie und Balance. Zudem zeigen Studien immer wieder, dass nachtaktive Menschen eher zu Genussgiften greifen und häufiger eine Depression haben. Es spricht also einiges fürs frühe Aufstehen. Doch schon eine Stunde länger schlafen bringt häufig die Lösung, um die Folgen des sogenannten sozialen Jetlags zu mildern – so nennt man die chronische Diskrepanz zwischen der sozialen und der biologischen Uhr, wenn also beispielsweise eine Eule an fünf Tagen in der Woche früh aufstehen muss.
30 Minuten Mittagsruhe reduzieren das Risiko von Herz-Kreislauf- Erkrankungen um bis zu 37 %
Quelle: Harvard School of Public Health
»ES IST NIE ZU SPÄT, SICH DIE ZEIT ZU NEHMEN, DIE MAN BRAUCHT.«
Dr. Werner Bartens, Mediziner und Autor
Was alle Chronotypen eint: Wir missachten allzu oft die natürlichen Rhythmen. Am häufigsten fehlt schlichtweg Schlaf. Dabei macht bereits eine einzige Nacht mit zu wenig Schlaf anfälliger für Infektionen. „Langfristig schädigt zu wenig Schlaf Gesundheit und Seelenheil“, fasst Dr. Bartens die Erkenntnisse mehrerer Studien zusammen. Wer immer wieder zu wenig schläft, betreibt Raubbau an sich, und die Neigung zu chronischen Leiden wächst.
Wann ist die beste Zeit, um zu essen?
So, wie wir oft wach bleiben, obwohl wir längst müde sind, essen auch viele, obwohl sie längst satt sind. Ebenfalls ungut: Hectic Cuisine, also schnell im Stehen oder nebenbei irgendetwas zu essen. Die aktuelle Forschung rät wieder zum Rhythmus der Großeltern: Besser für Gesundheit und Gewicht sind drei Mahlzeiten am Tag als fünf. Denn wichtig sind auch die Pausen da zwischen. „Nahrung nach der Stechuhr aufzunehmen bringt für die Gesundheit weniger als gedacht, eher sollte das Hungergefühl wieder mehr beachtet werden“, sagt Bartens und kritisiert damit auch die Ernährungsmode Intervallfasten. Feste Essenszeiten können andererseits wie ein sicherer Hafen wirken.
Zeitdruck und drohender Kontrollverlust steigern das Stressempfinden. Die Folge: Muße, Ruhe und Gelassenheit fehlen. „Unterschiedliche Zeitlichkeiten auszuhalten und nicht ungeduldig zu werden, wenn es gerade nur langsam vorangeht oder gar Rückschritte zu verkraften sind, will gelernt sein“, so Dr. Bartens. „Ebenso wie die Zuversicht, dass die richtige Zeit noch kommen wird.“ Als Belohnung winken Erfüllung und Genuss. Sie erleben wir nämlich nur in Momenten ohne Zeitdruck und Hetze. Perfekte Augenblicke, einfach so.
BETTINA KOCH
DIE ORGAN-UHR
IM RHYTHMUS Nach Auffassung der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) hat jedes Organ seine Arbeits- und Ruhezeiten. Sich nach diesem Energiekreislauf zu richten kann das persönliche Wohlbefinden verbessern. Medizinisch belegt sind diese Effekte jedoch bisher nicht
Die Organuhr zeigt, wann nach der TCM Magen, Herz oder Lunge besonders aktiv sind. Jeweils zwölf Stunden später hat das Organ seinen Tiefpunkt. Entsprechend sollte man es unterstützen oder entlasten.
VON 23 BIS 3 UHR entgiften nach TCM-Lehre erst Gallenblase, dann Leber. Alkohol ist jetzt besonders schädlich.
VON 3 BIS 5 UHR ist die Lunge nach der TCM energiegeladen. Schlafen bei offenem Fenster unterstützt ihre Reinigung.
VON 5 BIS 7 UHR arbeitet der Dickdarm. Ein Glas Wasser beim Aufstehen tut ihm gut.
VON 7 BIS 9 UHR arbeitet der Magen am besten – optimal fürs Frühstück.
VON 9 BIS 11 UHR pusht die Milz weiße Blutkörperchen, der Körper ist besonders widerstandsfähig, die Wundheilung beschleunigt – gute Zeit für medizinische Eingriffe.
VON 11 BIS 13 UHR wird das Herz stark mit der Lebensenergie Qi versorgt, wir tanken Energie für den restlichen Tag.
VON 13 BIS 15 UHR trennt der Dünndarm Wichtiges von Unwichtigem. Nach der TCM auch für uns die ideale Zeit für Reflexionen.
VON 15 BIS 17 UHR befreit sich die Blase von Altlasten, viel trinken hilft ihr.
VON 17 BIS 19 UHR hat der Magen sein Energietief, leichtes Abendessen tut ihm gut.
VON 19 BIS 21 UHR stellt sich der Körper auf Ruhemodus um.
VON 21 BIS 23 UHR werden die Energiekreisläufe koordiniert, der Blutdruck sinkt. Jetzt können Gedanken und Gefühle fließen.
Wann wirken Medikamente am besten?
Auch die Verarbeitung von Wirkstoffen im Körper läuft zu bestimmten Tageszeiten optimal
Arzneimittelgaben folgen immer öfter den natürlichen Rhythmen:
6 BIS 9 UHR Kortisonpräparate einnehmen. Abends genommen drosseln sie die normale morgendliche Hormonproduktion.
7 BIS 9 UHR Hormone bei Schilddrüsenunterfunktion sollten 30 Minuten vor dem Frühstück genommen werden. Die Darmschleimhaut ist jetzt hochaktiv und nimmt den Wirkstoff gut auf.
9 BIS 11 UHR Impfungen am frühen Vormittag bringen das jetzt sehr aktive Immunsystem dazu, mehr Antikörper gegen die Viren zu produzieren.
12 BIS 14 UHR Paracetamol sollte nicht vor 12 Uhr eingenommen werden. Das Schmerzmittel wird in der Leber abgebaut, die mittags besonders aktiv ist.
14 BIS 18 UHR Theophyllin gegen Asthma am Nachmittag oder frühen Abend als Spray verabreicht verhindert nächtliche Anfälle.
18 BIS 19 UHR Säureblocker eine Stunde vor dem Abendessen nehmen. So mindern sie das Zuviel an Säureproduktion, das im Liegen ganz besonders unangenehm sein kann.
20 BIS 22 UHR Blutfettsenker wirken nun optimal, hemmen die Produktion von LDL- Cholesterin, die um Mitternacht am höchsten ist.
21 BIS 22 Uhr Blutdrucksenker am späten Abend können morgendliche Blutdruckspitzen verhindern.
22 BIS 23 Uhr Immunsuppressiva bei Rheuma mildern morgendliche Gelenkschmerzen.
BUCHTIPP
Werner Bartens Körperzeiten Droemer 336 Seiten 20 Euro