... nicht so ganz aus der Welt, schließlich erledigen Frauen noch immer den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit. Haben die Kinder das Haus verlassen, folgt oft die Elternpflege, lebenslang scheinen Frauen zur Fürsorge verdammt. Ihre Karrieren stagnieren, und jetzt gibt auch noch eine Top-Managerin ihren Job bei Bosch auf, um ihre Eltern und auch noch ihre Schwiegereltern zu pflegen. Warum macht die das? Vielleicht hat sie ja keine Lust mehr auf stressige 16-Stunden-Tage und verbindet ihren Heldinnen-Notausstieg mit einer wirkungsvollen PR-Aktion. Oder jemand (ihre Familie? Ihr Mann?) hat ihr ein schlechtes Gewissen eingeimpft: Jetzt hast du dich lange genug um deine Karriere gekümmert.
I ndiesem Moment steht man vor einem Haus, weder luxuriös noch schräg, dafür mit schönem Blick über ein Eifel-Örtchen, aber absolut unprätentiös. Man klingelt zweimal, keiner macht auf. Schon will man sich umdrehen, da steht ein lässiger Typ mit Liam-Neeson-Charme in der Tür, Thomas Schneevoigt, Veras Ehemann. Der 54-Jährige serviert Kaffee im Wohnzimmer, geschmackvolle Möbel, Kunst an den Wänden, aber ganz ohne Wir-haben-viel-Kohle-Aura.
Vera Schneevoigt kommt im rosa Kleid, sie lacht, wirkt wach und lebhaft. Man spürt, dass sie Menschen und ihre Stimmungen in Sekundenschnelle einschätzen kann, sie setzt sich und stellt in Sachen Rollenverteilung im Hause Schneevoigt gleich mal klar: „Mein Mann und ich kümmern uns gemeinsam um unsere Eltern.“ Und überhaupt, er habe echte Hausmannqualitäten und mache mehr als sie, denn er sei ein fürsorglicher Mensch und „einer der wenigen männlichen Feministen, die ich kenne“. Tatsächlich wirkt er aufmerksam, steht auf, wenn jemand noch Kaffee möchte, nicht demonstrativ, eher selbstverständlich. „Thomas hat eine enge Bindung zu seiner Familie. Durch ihn bin ich im Laufe der Jahre selbst zum Familienmen- schen geworden.“ 2007 lernten sich die beiden bei Bosch kennen, sie stand hierarchiemäßig ein paar Etagen über ihm, was ihn nicht davon abhielt, um sie zu werben: „An Selbstbewusstsein mangelte es ihm noch nie“, lacht sie.
Gemeinsam beschlossen sie vor einigen Monaten, ihr Haus in Oberbayern zu verkaufen und zurück in die Eifel zu ziehen, um nahe bei den Eltern zu leben. Als selbstständiger Coach kann Thomas von überall arbeiten, Vera kündigte ihren hoch bezahlten Job als Chief Digital Officer bei der Bosch-Gruppe, in diesen Tagen läuft ihr Vertrag aus. „Heute habe ich fast auf den Tag genau 38 Jahre als Angestellte gearbeitet, davon mehr als 20 Jahre in Führungsjobs“, sagt sie. Wie man so eine machtvolle Position freiwillig aufgeben könne, fragen viele Kollegen. „Weil wir unser Leben neu ausrichten wollen und mehr Zeit für die wirklich wichtigen Menschen brauchen“, antwortet sie dann. Ohnehin werde das Thema Pflege in der Arbeitswelt zu oft verschwiegen. Für sie ein wichtiger Grund, warum sie ihre Kündigung öffentlich machte. „Unternehmen müssen dringend Modelle entwickeln, damit ihre Mitarbeiter – Männer wie Frauen – Pflegezeiten und Job miteinander verbinden können.“ Gerade Männer ihres Alters würden überhaupt nicht darüber nachdenken, ob sie später für ihre Eltern da sein wollten. Und weil Frauen immer noch seltener in Führungspositionen arbeiten und schlechter bezahlt werden als Männer, scheint es irgendwie selbstverständlich, dass die Care-Arbeit bei den Frauen liegt. „Ich sage oft zu Freunden: Wartet nicht zu lange, kümmert euch um eure Eltern, redet mit ihnen, vertieft eure Beziehung, solange es noch geht“, sagt Thomas Schneevoigt. „Irgendwann ist es zu spät, und dann hat man etwas Unwiederbringliches verloren.“
ILLUSTRATIONEN: JACK BEDFORD/TWENTY TWENTY; FOTO: CHRISTIAN MÜLLER
„Wir schenken unseren Eltern Zeit. Reden und lachen mit ihnen, stehen ihnen bei“
M anspürt das Engagement der beiden, ihren Willen, die Eltern besser kennenzulernen und ihnen etwas zurückzugeben, gerade weil die Beziehungen nicht immer einfach waren. Die Vater-Tochter-Beziehung ist innig, doch auch „meine Mutter und ich haben in den letzten Jahren emotional wie- der stärker zueinandergefunden.“ Anders als die meisten ihrer Manager-Kollegen kommt Vera also nicht aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, was ein Stück weit ihr soziales Engagement erklärt. Ihre Eltern haben einen Hauptschulabschluss, der Vater war Schweißer und Betriebsratsvorsitzender. Nach ihrem Abitur in Neustadt an der Weinstraße studierte sie nicht, sondern machte bei Siemens eine Lehre zur Industriekauffrau und arbeitete sich dort nach oben. Vor ihrem Job bei Bosch übernahm sie Spitzenpositionen beim Software-Unternehmen Unify und bei Fujitsu Technology Solutions und gilt heute als eine der wenigen weiblichen Managerinnen mit umfassender Expertise in den Zukunftsthemen digitale Transformation, Internet der Dinge und Industrie 4.0. In der Chefetage bei Fujitsu musste sie mit stark hierarchisch geprägten japanischen Kollegen klarkommen, auch sonst überlebte sie jede Menge schlechte Chefs. „Beruflich habe ich alles erreicht. Jetzt werden wir hier gebraucht.“ Und während man diese durchsetzungsfähige, aber sehr feinfühlige Alpha-Wölfin betrachtet, kann man sich kaum vorstellen, dass sie künftig zwischen Füttern und Spaziergängen ihre Bestimmung findet. Vielmehr wird sie die Pflege ihrer Eltern und Schwiegereltern klug „managen“. Sie hat das Glück, finanziell ausgesorgt zu haben, und so kann sie gute Pflegekräfte und Seniorenresidenzen bezahlen. Die Schneevoigts schenken ihren Eltern Zeit, kümmern sich um ihren Papierkram, reden und lachen mit ihnen, stehen ihnen im Alltag bei.
B eiderEltern sind um die 80 und gesundheitlich schwer angeschlagen, vieles können sie nicht mehr richtig einschätzen. Während der Flutkatastrophe im Ahrtal letzten Sommer wurden seine Eltern nur durch einen glücklichen Zufall nicht von den Wassermassen erfasst, sie hatten die Gefahr völlig verkannt, erzählt er. Erst gestern saß er mit seinem Vater in der Notaufnahme, nun liegt der im Krankenhaus. „Gut, dass ihr jetzt hier seid, aber das haben wir von euch nicht erwartet“, sagen die Eltern.
In diesem Moment setzt sich Ahmad dazu, er ist 19 und einer von zwei syrischen Brüdern, für die Vera und Thomas 2015 die Vormundschaft übernahmen. Ahmad macht eine Ausbildung in München und ist gerade zu Besuch. „Das Leben mit den Jungs, die ohne Eltern aus Syrien fliehen mussten, hat mich geerdet und war ein gesunder Ausgleich zu meinen abgehobenen Jobs“, sagt Vera Schneevoigt. Auch die Pandemie habe ihr gezeigt, was eigentlich wirklich wichtig ist: „Macht, Geld und Status sind nur geliehenes Glück.“ Jetzt will sie das echte Leben spüren. Die neue Freiheit genießen. Eine Programmiersprache lernen. Sich für die Initiative „FlutMut“ engagieren. Die Pflegesöhne begleiten. Den Eltern die letzten Jahre verschönern. Und endlich selbstbestimmt und wertschöpfend arbeiten: Zusammen mit ihrem Mann hat Vera Schneevoigt gerade eine Firma gegründet. Klingt logisch. Eine Frau wie sie braucht Herausforderungen.