... unverwandt auf das Brett. Sie beobachtete jeden Zug. Sie war auf die Idee gekommen, sich die Beruhigungspillen bis zur Nacht aufzu- heben. Sie halfen ihr in den Schlaf. Wenn Mr. Fergussen ihr die längliche Pille aushändigte, steckte sie sie in den Mund, ließ sie unter die Zunge rutschen, nahm einen Schluck von dem Orangensaft, den man dazu bekam, und sobald Mr. Fergussen beim nächsten Kind war, nahm sie die Pille aus dem Mund und steckte sie in die Tasche ihrer Matrosenbluse. Die Pille hatte einen harten Überzug und zerging nicht gleich unter der Zunge.
Mit feister Hand griff Mr. Shaibel nach einer der größeren schwarzen Figuren, hob sie geschickt an und stellte sie auf ein Feld am anderen Brettende. Er zog die Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch immer sah er Beth nicht an. „Mit Fremden spiele ich nicht.“
Die tonlose Stimme war wie ein Schlag ins Gesicht. Beth drehte sich um und ging. Als sie die Treppe hinaufstieg, hatte sie wieder den schlechten Geschmack im Mund. „Ich bin keine Fremde“, sagte sie zwei Tage später zu ihm. „Ich wohne hier.“ Hinter ihrem Kopf schwirrte eine Motte um die Glühbirne, ihr fahler Schatten fuhr regelmäßig über das Brett. „Sie können es mir beibringen. Ein bisschen was weiß ich schon vom Zuschauen.“ „Schach ist nichts für Mädchen.“ Die Stimme wieder tonlos.
Beth zwang sich, einen Schritt näher zu treten, und deutete auf eine der Figuren, hütete sich aber, sie zu berühren. In ihrer Vorstellung war die runde Figur eine Kanone. „Die da geht rauf und runter oder nach links und rechts. So weit, wie sie Platz hat.“ Mr. Shaibel schwieg eine Weile. Dann deutete er auf die Figur, die aussah, als hätte sie obendrauf eine halbierte Zitrone. „Und die?“ Ihr hüpfte das Herz. „Geht über die Diagonale.“
Die Anspannung verwandelte sich in Wohlgefühl
Man konnte abends nur die eine Pille nehmen und sich die andere aufheben. Die aufgesparten bewahrte Beth in ihrem Zahnbürstenetui auf, dort würde bestimmt niemand nachsehen. Sie musste nur nach dem Zähneputzen die Bürste mit einem Papierhandtuch möglichst gut abtrocknen, oder sie gar nicht erst benutzen und die Zähne mit dem Finger putzen.
Eines Abends nahm sie zum ersten Mal drei Pillen, eine nach der anderen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf; sie hatte etwas Wichtiges entdeckt. Sie lag in ihrem verwaschenen Schlafanzug auf dem kleinen Bett, am ungünstigsten Platz des Mädchentrakts, gleich neben der Korridortür und weit entfernt von der Toilette, und ließ dieses Glühen durch den ganzen Körper strömen. Etwas in ihrem Leben hatte sich gelöst: Sie kannte die Schachfiguren und wusste, wie man sie bewegte und sie schlug und sie hatte herausgefunden, wie sie mit den Pillen, die das Waisenhaus ihr gab, die Spannung im Magen und in den Gelenken in ein Wohlgefühl verwandeln konnte.
„Jetzt oder nie“, sagte Mister Shaibel. Beth zögerte nur eine Sekunde
„Okay“, sagte Mr. Shaibel. „Wir können jetzt Schach spielen. Ich habe Weiß.“
Sie stand mit ihren Tafelwischern da. Die Mathematikstunde war vorbei und in zehn Minuten würde Erdkunde beginnen. „Ich habe nicht viel Zeit“, erwiderte sie. Am Sonntag davor hatte sie in der Stunde, die sie sich während des Gottesdienstes fortstehlen konnte, alle Züge gelernt. Sie musste sich beim Gottesdienst nur zu Anfang blicken lassen, danach vermisste sie niemand, denn es kam immer eine Gruppe von Mädchen aus dem Kinderheim am anderen Ende der Stadt. In Erdkunde war das anders. Obwohl sie die Klassenbeste war, hatte sie eine Heidenangst vor Mr. Schell. Der Hausmeister sprach wieder tonlos.
„Jetzt oder nie.“
„Ich habe Erdkunde …“
„Jetzt oder nie.“
Sie zögerte nur eine Sekunde. Hinter dem Kessel hatte sie eine alte Milchkiste gesehen, die zog sie vor die andere Seite des Bretts, setzte sich und sagte: „Ziehen Sie.“ Er setzte sie in vier Zügen matt, mit dem sogenannten Schäfermatt, wie sie später erfahren sollte. Das ging schnell, aber nicht schnell genug, sie kam mit einer Viertelstunde Verspätung in den Erdkundeunterricht. Sie behauptete, sie sei auf der Toilette gewesen.
Mr. Schell stand an der Tafel, die Hände in die Hüften gestützt. Er ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. „Hat eine der jungen Damen diese junge Dame in der Damentoilette gesehen?“
Unterdrücktes Kichern. Keine meldete sich, nicht einmal Jolene, obwohl Beth schon zweimal für sie gelogen hatte. „Und wer von den jungen Damen war vor dem Unterricht auf der Damentoilette?“ Wieder Kichern, drei Hände gingen hoch. „Und hat eine von euch Beth dort gesehen? Wie sie sich etwa die hübschen Händchen gewaschen hat?“
Keine Antwort. Mr. Schell wandte sich wieder der Tafel zu, auf der er gerade die Exportgüter Argentiniens auflistete, und setzte „Silber“ hinzu. Beth dachte schon, es sei vorbei. Dann aber sagte Mr. Schell mit dem Rücken zur Klasse: „Fünf Tadel.“ Bei zehn Tadeln gab es Schläge mit einem Ledergurt. Bisher hatte Beth den Gurt nur in ihrer Vorstellung gespürt, doch nun steigerte sich das zur Vision eines brennenden Schmerzes am Hintern. Sie legte die Hand aufs Herz und ertastete in der Brusttasche ihrer Bluse die Morgenpille. Sofort ließ die Furcht nach. Sie stellte sich das Zahnbürstenetui vor, den länglichen, viereckigen Plastikbehälter, denn dort, in der Schublade des kleinen Metallkastens neben ihrem Bett, waren jetzt vier Pillen.
Am Abend lag sie ausgestreckt in ihrem Bett. Ihre Pille hatte sie noch nicht geschluckt, sie hielt sie noch in der Hand. Sie lauschte auf die nächtlichen Geräusche, die ihr umso lauter erschienen, je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Vorn am Pult begann Mr. Byrne ein Gespräch mit Mrs. Holland. Beths Körper straffte sich. Sie blinzelte und sah hinauf zur dunklen Decke, zwang sich, dort das Schachbrett mit seinen grünen und weißen Feldern zu sehen. Dann stellte sie die Figuren auf ihre Grundfelder: Turm, Springer, Läufer, Dame, König, davor die Reihen der Bauern. Sie zog den weißen Königsbauern zwei Felder vor. Den schwarzen ebenfalls. Sie konnte das! Es war ganz einfach. Sie machte weiter und spielte die verlorene Partie nach. Sie zog mit Mr. Shaibels Springer. Ganz deutlich stand er im Geist vor ihr, auf dem grün-weißen Schachbrett an der Decke des Schlafsaals.
Die Geräusche hatten sich in ein weißes, harmonisches Hintergrundrauschen verwandelt. Glücklich lag sie im Bett und spielte Schach.
Sie wollte unbedingt zu Ende spielen
Am folgenden Sonntag verhinderte sie das Schäfermatt mit ihrem Königsspringer. Sie war die Partie im Geist hundertmal durchgegangen, bis Wut und Demütigung sich verflüchtigt hatten und die Figuren, das Brett in ihrer nächtlichen Vision klar vor ihr standen. Als sie am Sonntag zu Mr. Shaibel kam, war alles durchgeplant, und sie zog den Springer wie in einem Traum. Die Figur mit dem kleinen Pferdekopf fühlte sich gut an in ihrer Hand. Als sie den Springer auf das Feld stellte, verzog der Hausmeister das Gesicht. Er griff zu seiner Dame und bot Beth damit Schach.
Darauf war Beth aber auch vorbereitet, sie hatte es nachts in ihrem Bett gesehen. Er brauchte vierzehn Züge, um ihre Dame einzusperren. Sie wollte den tödlichen Verlust nicht wahrhaben und damenlos weiterspielen, doch er streckte den Arm aus und blockierte ihre Hand, die gerade einen Bauern ziehen wollte. »Du gibst jetzt auf«, sagte er in rauem Ton.
„Aufgeben?“
„Ganz recht, Kleine. Wenn man auf diese Art die Dame verliert, gibt man auf.“ Verständnislos starrte sie ihn an. Er ließ ihre Hand los, nahm ihren schwarzen König und legte ihn aufs Schachbrett, wo er kurz vor- und zurückrollte und dann still lag.
„Nein“, sagte sie.
„Doch. Du hast aufgegeben.“
Sie wollte ihn mit irgendetwas schlagen. „Von dieser Regel haben Sie mir nichts gesagt.“ „Es ist auch keine Regel. Es ist Sportsgeist.“ Jetzt wusste sie zwar, was er meinte, aber es passte ihr nicht. „Ich will zu Ende spielen“, sagte sie, nahm den König und setzte ihn zurück auf sein Feld. „Nein.“ „Sie müssen das zu Ende spielen.“
Da hob er die Augenbrauen und stand auf. Im Keller hatte sie ihn noch nie stehen sehen, nur draußen in den Gängen, beim Kehren, oder in den Klassenzimmern, wenn er die Tafeln sauber machte. Er musste sich etwas ducken, um sich an den Balken der niedrigen Decke nicht den Kopf anzustoßen. „Nein“, wiederholte er. „Du hast verloren.“
Das war nicht fair. Sportsgeist interessierte sie nicht. Sie wollte spielen, und sie wollte gewinnen. Mehr, als sie je irgendetwas zuvor gewollt hatte. So sagte sie ein Wort, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr ausgesprochen hatte: „Bitte.“
„Das Spiel ist vorbei.”
Wütend stierte sie ihn an. „Sie gieriger …“ Er ließ die Arme fallen und sagte bedächtig: „Kein Schach mehr. Raus mit dir.“
Wäre sie nur größer gewesen. Aber nein. Sie stand vom Schachbrett auf und ging zur Treppe, der Hausmeister sah ihr schweigend nach. Als sie am Dienstag mit den Tafelwischern in den Keller wollte, war die Tür verschlossen. Sie versuchte sie zweimal mit der Hüfte aufzudrücken, erfolglos. Beth klopfte, erst sanft, dann laut, aber von innen war nichts zu hören. Das war furchtbar. Sie wusste, dass er an seinem Brett saß, dass er bloß immer noch verärgert war, doch konnte sie nichts machen. Als sie die Tafelwischer zurückbrachte, fiel Miss Graham nicht einmal auf, dass sie nicht sauber waren und Beth weniger lang gebraucht hatte als sonst.
Am Donnerstag war sie auf das Gleiche gefasst. Aber die Tür stand offen, und als sie die Stufen hinunterging, tat Mr. Shaibel so, als wäre nichts geschehen. Die Schachfiguren waren schon aufgestellt. Sie machte rasch die Tafelwischer sauber und setzte sich ans Brett. Da hatte Mr. Shaibel schon seinen Königsbauern zwei Felder vorgesetzt, und sie tat es ihm nach. Diesmal würde sie keine Fehler machen.
Er erwiderte ihren Zug rasch und auch sie zog sofort wieder. Sie sprachen kein Wort miteinander, setzten die Partie Zug um Zug fort. Sie konnte die Spannung zwischen ihnen spüren, und das gefiel ihr.
Im zwanzigsten Zug setzte Mr. Shaibel einen Springer auf ein unglückliches Feld, Beth konnte dadurch einen Bauern auf die sechste Reihe bringen. Er zog den Springer zurück. Damit hatte er einen Zug vergeudet und Beth durchfuhr ein Schauer, als sie das sah. Sie tauschte ihren Läufer gegen seinen Springer ab. Als sie wieder an der Reihe war, rückte sie mit ihrem Bauern noch ein Feld vor. Beim nächsten Zug würde sie ihn in eine Dame verwandeln können.
Mr. Shaibel starrte auf das Brett, dann stieß er verärgert seinen König um. Keiner der beiden sagte etwas. Es war Beths erster Sieg. All die Spannung war wie weggeblasen und Beth spürte in sich etwas Wunderschönes, so schön wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Aus: Walter Tevis „Das Damengambit“, aus dem Amerikanischen von Gerhard Meier,
© 2021 Diogenes Verlag, Zürich