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Das KRANKENHAUS der ZUKUNFT


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Gong - epaper ⋅ Ausgabe 38/2022 vom 16.09.2022

GESUNDHEIT

„Herzlich begrüßt werden, SICH WILLKOMMEN FÜHLEN, das ist Teil einer dringend notwendigen Serviceorientierung.“

Prof. Jochen A. Werner

Deutschlandhat nach wie vor eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. In etlichen Bereichen sind dennoch Verbesserungen nötig – und das dringend. Prof. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Essener Universitätsklinikums, begleitet seit Jahren Modernisierungen großer Krankenhäuser und beschäftigt sich mit den brisantesten Problemen – vom Pf legenotstand bis zur Patientensicherheit. Er hat eine Vision, wie das Krankenhaus der Zukunft aussehen könnte (siehe auch Buchtipp S. 8). Das sind seine Ideen:

Keine Angst vor Technik

Skepsis überwiegt, wenn es um neue Technik, Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz geht. Dabei sind die Roboter längst Alltag in den großen Kliniken – und ein Plus für Patienten.

KOLLEGE ROBOTERMehr und mehr OPs werden mit der sogenannten Da-Vinci-Chirurgie durchgeführt. Dabei bedienen Ärztinnen und Ärzte Operationsarme und Kameras via Computer, was sehr präzise und minimalinvasive Eingriffe erlaubt. Sogenannte CO2-Laser ermöglichen inzwischen Chirurgie an Körperstellen, die mit OP-Besteck kaum zugänglich waren oder bei herkömmlichen Eingriffen geschädigt wurden, etwa im Kehlkopf oder an den Stimmbändern. In den Klinikapotheken mixen Roboter nach ärztlicher Anweisung individuelle Anti-Krebs-Mittel. All diese Assistenzsysteme entlasten laut Prof. Werner das Klinikpersonal. Der gelernte HNO-Chirurg ist überzeugt: „Technologie hilft uns, die Sicherheit zu verbessern.“

SMARTE ASSISTENZ Die Digitalisierung erleichtert zudem die Arbeit des Pf legepersonals. So können die täglichen Tabletten für Patienten heute mithilfe von Automatensystemen zusammengestellt und verpackt werden. Auch beim Messen von Blutzuckerwerten helfen digitale Assistenten. „So bleibt mehr Zeit für die Pflege am Bett“, sagt Prof. Werner. Er plädiert für eine unvoreingenommene Sicht auf neue Technik.

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Ärzte hatten lange den Nimbus, allwissend und fehlerfrei zu sein. Künstliche Intelligenz (KI) aber kann da helfen, wo menschliche Fähigkeiten an ihre Grenzen stoßen, etwa wenn in großer Zahl Untersuchungsdaten diverser Fachbereiche zusammengeführt und ausgewertet werden müssen. Algorithmen können zudem Therapieempfehlungen stützen. „Momentan werden zu viele relevante Daten nicht systematisch erfasst, andere bleiben ungenutzt“, weiß Werner.

MEHR AMBULANTE EINGRIFFE Neue OP-Verfahren, etwa mit bildgebender Technik, und minimalinvasive Methoden erlauben schonendere Eingriffe, nach denen Patienten schneller wieder nach Hause können. Das hat laut Prof. Werner große Vorteile: „Für die schwierigen Fälle sind Personal und Betten dann nicht so knapp.“ Dass diese Möglichkeit derzeit zu wenig genutzt wird, hat nach seiner Einschätzung einen einzigen Grund: das veraltete Vergütungsmodell von Kliniken. Der Experte kann sich sogar Spezialkliniken für ambulante OPs vorstellen. In Kanada etwa ist es bereits möglich, dass Angehörige per App nachvollziehen, wann die OP beginnt und wann sie zum Abholen kommen können. Auch die Nachsorge wird per App organisiert.

HIGHTECH-HILFE In OP-Sälen werden immer öfter Chirurgiesysteme wie der Da-Vinci-Roboter eingesetzt FEINARBEIT Ein Da-Vinci-Roboter demonstriert seine Präzision beim ?Eingriff? an einer Rosenblüte

Mehr Menschlichkeit

Einfühlungsvermögen sowie gute Kommunikation mit Patienten und im Team sind wichtig für die Qualität der Arbeit. „Sie sind nicht mehr in der Mehrheit, aber noch immer gibt es einige Halbgötter in Weiß, deren Kommunikations- und Führungsverhalten in keiner anderen Branche toleriert werden würde“, kritisiert Werner.

PROFESSIONELLE EMPATHIE „Herzlich begrüßt werden, sich willkommen fühlen, Aufmerksamkeit spüren, freundlich verabschiedet werden: Das alles ist Teil einer dringend notwendigen Serviceorientierung“, diagnostiziert der Arzt. Wenn neue Technik bei einzelnen Tätigkeiten zuverlässig und ermüdungsfrei unterstützt, entlastet sie Pf legepersonal und Mediziner. So entstehen Freiräume, etwa für tiefere Gespräche mit den Patienten.

INFORMIERTE PATIENTEN Längst ist es üblich, dass Ärzte nicht mehr die ihrer Meinung nach beste Therapie verordnen, sondern mit dem Patienten auf Augenhöhe die optimale Behandlung besprechen. Damit das gut funktioniert, bräuchte es jedoch aufgeklärte Patienten mit medizinischem Grundwissen. „Gesundheit gehört als Pf lichtfach in die Schule“, findet Prof. Werner. „Zusätzlich ist gesund-heitliche Erwachsenenbildung nötig, um bedenkliche Auswüchse Richtung Quertreibertum bekämpfen zu können.“

PSYCHE IM BLICK Auch das Personal müsste nach Ansicht des Klinikmanagers weitergebildet werden, gerade im emotional-ethischen Bereich. Bereits in der Ausbildung sollten folgende Grundkompetenzen trainiert werden: aktives Zuhören, das Erkennen von Ängsten und Depressionen, Gespräche über schwierige Themen, der Umgang mit Angehörigen von Sterbenden.

NACH DER ENTLASSUNG Bei der nachstationären Genesung gibt es große Lücken. Die Kommunikation zwischen Klinik und Hausarztpraxis ist oft ungenügend, Patienten werden alleingelassen. Prof. Werner sieht einen Ausweg in speziell geschultem Pf legepersonal: „Als virtuelle Pflegevisite halten sie Kontakt zu Patienten und können untypische Verläufe früh erkennen.“

FEHLERKULTUR „Fehler zuzugeben ist besser für alle“, weiß der Arzt. Es geht nicht darum, zu beschuldigen oder anzuschwärzen, sondern aus kritischen Situationen zu lernen und Fehlerquellen zu erkennen. In der Luftfahrt etwa sind Meldesysteme für Beinaheschäden etabliert, in Kliniken werden sie zu oft nicht genutzt.

MEHR ZEIT Für einfühlsame Gespräche mit den Patienten bleibt in der neuen Klinikwelt mehr Raum SOFORTHILFE Im Stroke-Einsatz-Mobil werden Schlaganfallpatienten auf dem Weg in die Klinik behandelt HÖCHSTLEISTUNG Dank Miniaturgeräten werden Krankenwagen zu kleinen Notfallkliniken

Bessere Organisation

Die Schließung von Krankenhäusern hält der Experte für unabdingbar. Neue und bestehende sollten dafür besser organisiert werden, auch ökologischer.

SPEZIALISIERTE ZENTREN „Wir haben in Deutschland zu viele kleine Krankenhäuser“, diagnostiziert Werner. Von den knapp 2000 Kliniken haben viele keine 200 Betten. Problem: Sie kosten viel und binden Personal, das allerorten fehlt. Um die Überversorgung zu verdeutlichen, wählt er ein Bild aus dem Alltag: „Der Weg zum nächsten Möbelhaus ist meist weiter als zur nächsten Klinik.“ Sei es bei Frühgeburten oder Krebs-OPs: Bessere Ergebnisse haben stets die großen Zentren, besonders bei komplizierten Eingriffen. „Sie bündeln Kompetenzen, sind sicherer für den Patienten.“

STARKE NOTFALLMEDIZIN Wenn man an medizinische Notfälle denkt, klingt es besser, die nächste Klinik möglichst nah zu haben. Doch gerade in lebensbedrohlichen Situationen sei die maximale Kompetenz geboten, argumentiert Prof. Werner. Die Rettungsmedizin beginnt auf dem Weg zur Klinik: Digitalisierung und Miniaturisierung von Medizingeräten machen aus Krankenwagen und Rettungshubschraubern kleine Kliniken. Heute schon unterwegs sind mobile Stroke-Units: In diesen Rettungswagen mit eingebautem CT kann direkt mit Diagnose und Behandlung von Schlaganfällen begonnen werden.

ELEKTRONISCHE PATIENTENAKTE Eine vom einzelnen Krankenhaus unabhängige elektronische Akte, die Befunde, Bilder, Verschreibungen enthält, bekommen Patienten auf Anfrage heute schon über die Krankenkasse – die Basis für eine vernetzte Kommunikation aller behandelnden Stellen und ein Plus an Sicherheit.

GREEN HOSPITAL Krankenhäuser zählen zu den größten Energieverbrauchern und Abfallverursachern. Von Wertstoffen über Wäsche und Verpackungen bis zu Hitzeschutz gibt es hier ein riesiges Feld für positive Entwicklungen. Prof. Werner plädiert für einen Kurswechsel: „Grüne Gedanken müssen auch im Krankenhaus-Management Einzug halten.“

BETTINA KOCH

BUCHTIPP

Prof. Jochen A. Werner

So krank ist das Krankenhaus Klartext 312 S., 30 €

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