... behauptet hatten. Zwar gab es seit dem Austritt aus der EU einige gravierende Probleme im Bereich der britischen Wirtschaft, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wurden. Doch hielten sich die Rückschläge in Grenzen. So brachen die britischen Exporte in die Europäische Union zunächst deutlich ein. Inzwischen werden die Verluste jedoch bereits wieder aufgeholt. Selbst aus dem für die globale Finanzwirtschaft wichtigen London zogen nicht die meisten Manager ab. In der Liste der dominierenden Finanzzentren der Welt hält London nach New York immer noch den zweiten Platz. Das Britische Pfund legte nach leichten Verlusten wieder zu. Und in der Bewältigung der Coronakrise demonstrierten die von Premierminister Johnson ergriffenen Maßnahmen, was die wiedererlangte nationale Selbstbestimmung wert ist: Die entschlossene und rasche Impfstrategie zeigte nicht nur die Vorteile, die man mit dem Austritt aus der EU erlangt hatte. Auch die moralische Überlegenheit über die „EU-Nomenklatura“ in dieser für die britischen Bürger wichtigen Frage wurde deutlich. Auch der Versuch einiger europäischer Politiker, das Vertrauen in den Impfstoff des britisch-schwedischen Pharmakonzerns AstraZeneca zu untergraben, konnte daran nichts ändern.
Positive wirtschaftliche Entwicklung
Mit Blick auf die Entwicklung der Wirtschaft können wir damit rechnen, dass Großbritannien dank der pragmatischen Einstellung seiner Regierung schon in absehbarer Zeit Erfolge verzeichnen dürfte. Wenngleich der Brexit zunächst den Finanzplatz London etwas geschwächt und zur Abwanderung von Arbeitsplätzen vor allem nach Paris, Frankfurt, Amsterdam und Mailand geführt hatte, gibt es mittlerweile eine Gegenbewegung. Der Finanzplatz London bleibt wichtig. Darüber hinaus lässt sich am Verhalten der britischen Unternehmen ablesen, dass man die Folgen des Brexits rechtzeitig korrekt eingeschätzt hat und nunmehr adäquat handelt. So überrascht es nicht, dass zunehmend Privatkapital ins Land strömt. Es ist wahrscheinlich, dass sich Großbritannien bereits im Verlauf des Jahres 2021 besser von der Rezession erholt als andere Länder Europas, weil der Erfolg des Impfprogramms und das entschlossene nationale Herangehen entscheidend zum Ende der Restriktionen und damit zur Erholung der Wirtschaft beitragen. Bereits für 2021 gehen Ökonomen von einem Wirtschaftswachstum von 6 Prozent aus. Und schon im Jahre 2022 könnte das Vorkrisen- Niveau des BIP erreicht werden. Auch die Schaffung von Freihäfen und Sonderwirtschaftszonen zur Entlastung der Brexit-Bürokratie erscheint sinnvoll, um neue Dynamik in der Wirtschaft zu entfachen. Die britische Regierung kann darauf zählen, dass Großbritannien mit seinen 66 Millionen kaufkräftigen Konsumenten und dem nach wie vor bedeutenden Finanzplatz London ein attraktiver Markt bleibt. Der Erfolg der Wirtschaftspolitik der Regierung Johnson dürfte auch die Chancen verbessern, die Sezessionsbestrebungen in Schottland, in Wales und in Nordirland zu konterkarieren. Dies gilt erst recht nach dem Sieg der SNP bei den Regionalwahlen in Schottland und der Labour-Partei bei den Kommunalwahlen in Wales am 6. Mai 2021. Ungeachtet der Ankündigung von Nicola Sturgeon, der Chefin der SNP, erneut ein Unabhängigkeits-Referendum einzubringen, dürfte Premierminister Johnson nicht nur seine Ablehnung deutlich machen, sondern mit größerem Entgegenkommen in wirtschaftlichen und politischen Fragen gegenüber den Schotten und Walisern den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs zu sichern.
Und die deutsche Reaktion?
Wie kompliziert und ungewohnt die künftigen Beziehungen der EU- Länder mit Großbritannien auch sein mögen, so sollte man doch aus deutscher Sicht mit mehr Gelassenheit und Optimismus auf die Brexit-Folgen blicken. Mit Pragmatismus und Professionalität wird man für alle Probleme eine akzeptable Regelung finden. Die nach wie vor seitens einiger Politiker in Brüssel und in Berlin zum Ausdruck kommende feindselige Haltung gegenüber der britischen Regierung wird den Lauf der Geschichte nicht aufhalten. Zum einen wird der Erfolg des britischen Vorgehens zur Unabhängigkeit und zur Wiedererlangung seiner Souveränität manche Regierungen in der EU, etwa in Ungarn und Polen, sowie die in Frankreich um das Präsidentenamt kämpfende national-konservative Marine Le Pen dazu beflügeln, eine grundlegende Veränderung des europäischen Staatenverbundes zu fordern. Zum anderen wird die britische Regierung viel Mühe und die hohe Kunst der Diplomatie darauf verwenden müssen, die zahlreichen Versuche der „Nomenklatura“ in Brüssel abzuwehren, die Regierung Biden in den USA gegen Großbritannien in Stellung zu bringen, die Sezessionsbestrebungen im Vereinigten Königreich zu fördern und alle Gelegenheiten zu nutzen, um den Austritt Großbritanniens letztlich zu einem Misserfolg werden zu lassen. Für Premierminister Johnson könnte dies die größte Herausforderung werden.
Dr. Walter Schilling geb. 1938, Generalstabsoffizier, Politikwissenschaftler, von 1988 bis 1991 deutscher Militärattaché in Moskau