GESUNDHEIT
Bei manchen wüten die Dämonen hinter den Schläfen, bei anderen hinter den Augen. Viele spüren ein Hämmern, andere ein Zerren oder Klopfen. Kopfschmerz ist ein Volksübel. Knapp 40 Prozent der erwachsenen Deutschen leiden mehrmals monatlich darunter, für jeden Vierten ist er ein regelmäßiger Begleiter. Über ernsthafte Migräneattacken klagt immerhin jeder Zehnte. Die größte Risikogruppe: Frauen. Auch Stadtbewohner trifft es im Schnitt häufiger. Und leider immer mehr Kinder und Jugendliche: Eine Befragung unter Gymnasiasten ergab, dass 83,1 Prozent von ihnen innerhalb der vergangenen sechs Monate Kopfschmerzen hatte. Eine Entwicklung, die Experten große Sorgen bereitet.
Primäre Kopfschmerzen – so nennen Ärzte das mysteriöse Leiden. Seine Ursachen liegen irgendwo zwischen Körper und Seele versteckt. Für Betroffene beginnt mit dem Schmerz oft eine Odyssee von einem Arzt zum nächsten, von einer Tablettensorte zur anderen. „Doktorhopping und Doktorshopping: Das sind häufige Leidenswege der Patienten“, weiß Prof. Hartmut Göbel, Ärztlicher Direktor der Schmerzklinik Kiel. Tappen die Experten also oft im Dunkeln? Nicht ganz, denn sie wissen: Zu 90 Prozent haben sie es mit Migräne und Spannungskopfschmerz zu tun. Die geben sich zwar auch nicht ohne Weiteres zu erkennen, bringen aber bestimmte Charakter züge mit sich, quasi einen Steckbrief: Drückende Spannungskopfschmerzen rühren oft von Verhärtungen der Nackenmuskulatur her, betreffen beide Kopfseiten, dauern wenige Minuten bis mehrere Tage, werden nicht von Erbrechen oder Übelkeit und sehr selten von Licht- oder Lärmempfindlichkeit begleitet. Bewegung und Sport scheinen sie zu beruhigen, Wärme, Massagen und Dehnübungen auch.
Das Risiko für Migräne ist erblich
Migräne, von der es übrigens 45 verschiedene Formen gibt, betrifft dagegen meist nur eine Kopfhälfte, zeigt sich als pulsierender, pochender Schmerz und in Attacken von vier bis 72 Stunden. Körperliche Anstrengung bekommt ihr gar nicht, sie bringt Übelkeit und Erbrechen mit sich, Licht und Lärm machen alles nur noch schlimmer. Bei zehn bis 15 Prozent der Betroffenen kündigt sich die Migräne mit der sogenannten Aura an: mit Sehstörungen, Lichtblitzen und Gesichtskribbeln. Auch Heißhungeranfälle, Müdigkeit, häufiges Gähnen oder sogar das Gefühl, ständig zur Toilette zu müssen, warnen Patienten schon mal: Es geht wieder los.
AUSLÖSER Wer lange starr in einer Haltung verharrt, riskiert Muskelverhärtungen. Das kann Kopfweh verursachen
Die Migräne ist wahrlich keine Neuheit, aber sie ist auf dem Vormarsch. Schuld sind vermutlich unsere veränderten Lebensbedingungen: der Stress, die Überforderungen, die vielen seelischen Belastungen. Selten ist ein einziger Faktor der Auslöser, meist die Summe kleiner Ärgernisse. Die Seele zählt sie alle zusammen – und schlägt immer wieder schmerzvoll Alarm. Die neueste Erkenntnis: Migräne basiert auf 38 Risikogenen. Einige von ihnen verändern die Arbeit des Nervensystems. „Alles zu Schnelle, jedes Zuviel, alles Plötzliche und alles, was auf einmal kommt, kann Migräneattacken deshalb auslösen“, sagt der Neurologe Prof. Göbel. „Der Energieverbrauch in den Nervenzellen wird überfordert, und es kommt zu einer Störung der Nervenfunktion. Diese genetische Veranlagung ist ein Leben lang präsent. Sie führt dazu, dass Migränepatienten auch zwischen den Anfällen eine besondere Reiz- und Reaktionsbereitschaft besitzen. Daran muss man seinen Lebensstil anpassen.“
Fast 40 % der Deutschen leiden mehrmals monatlich unter Kopfschmerzen
Gegen die stechende Qual hilft Sauerstoff
Neben Migräne und Spannungskopfweh stellen trigeminoautonome Kopfschmerzen eine weitere große Gruppe dar. Zu ihnen gehört auch der Clusterkopfschmerz. Er tritt meist nur in einer Kopfhälfte rund um Schläfe und Auge auf, das aber bis zu achtmal täglich. Dazu befällt Patienten eine seltsame Unruhe, sie können kaum noch still sitzen. Mehrere Wochen lang hält die Plage typischerweise an, sie kann aber auch chronisch werden und mehr als ein Jahr dauern. Begleiterscheinungen sind Augenrötung, Lidschwellung, Tränen, eine laufende oder verstopfte Nase. Probate Gegenmittel: spezielle Medikamente wie etwa Triptane. Oder das Einatmen von 100-prozentigem Sauerstoff.
Nicht immer gut: der Griff zur Tablette
Egal, an welcher Krankheitsform man letztlich leidet: Heilung ist leider nicht immer möglich, so Prof. Göbel. „Doch auch wenn man Kopfschmerzen nicht in dem Sinn behandeln kann, dass sie nie mehr auftreten, gibt es für die meisten Formen Möglichkeiten, sie zu kontrollieren und trotzdem eine gute Lebensqualität zu haben.“ Bei allen Kopfweharten kann man sich Linderung mit Medikamenten oder wirksamen Alternativen verschaffen (siehe Kasten rechts). Wenig ratsam ist es jedoch, zu viele Medikamente gegen den Schmerz zu schlucken. Denn dann lernt man ziemlich sicher eine weitere Variante kennen: den sogenannten Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz. Er tritt auf, wenn man an mehr als zehn Tagen im Monat Akutmittel wie Kombinationspräparate oder Triptane einnimmt. Das tun viele Menschen, ohne sich der Folgen bewusst zu sein.
Stichhaltiger Schmerzkiller
Extrem wichtig ist es, den Teufelskreis aus Anspannung, Stress und Schmerz bereits frühzeitig zu unterbrechen. Geschieht das nicht, reagieren bestimmte Nervenzellen überaktiv und produzieren zu viele Schmerzreize. Wer zu lange mit einer gezielten Therapie wartet, riskiert weitere Gesundheitsschäden. „Die genetisch bedingte besondere Arbeitsweise des Nervensystems führt auch zu Veränderungen im Herz-Kreislauf-System und in der Reizverarbeitung bei psychischen Funktionen“, erklärt der Experte Prof. Hartmut Göbel. „So haben Migränepatienten ein erhöhtes Risiko für Depression, Angsterkrankungen und sogar für Suizid. Auch das Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt und für Bluthochdruck ist bei ihnen erhöht.“
DIAGNOSE Dumpf, anschwellend, spitz? Die Art des Schmerzes verrät oft schon etwas über seine Entstehungsgründe
Die gute Nachricht: Wissenschaftler forschen ständig an neuen Therapien. Innovative Medikamente werden vor allem dann eingesetzt, wenn andere Therapien erfolglos waren, und können das Leiden immer besser lindern – allen voran die sogenannte Migränespritze. Im Gegensatz zu bisherigen Migränemitteln greift sie erstmals direkt in den Mechanismus der Krankheit ein: Bei Migräne wird ein schmerzauslösendes Eiweißmolekül im Körper freigesetzt, der sogenannte CGRP- Botenstoff. Die neuen Antikörpertherapien blockieren nun die Reizübertragung am Rezeptor, sodass die „Botschaft“ nicht übertragen werden kann. Patienten können sich wie bei Diabetes den Wirkstoff mithilfe eines Autoinjektors täglich vorbeugend selbst verabreichen. Eine erste Studie dazu hat ergeben, dass diese Therapie kaum Nebenwirkungen zeigt und bei einem Drittel der Patienten extrem gut wirkt, bei einem weiteren Drittel zumindest gut. Diese Ergebnisse lassen alle Schmerzgeplagten hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.
SILKE PFERSDORF, CLAUDIA BROCK
LINDERUNG Zehnprozentiges Pfefferminzöl hat sich bei Spannungskopfweh sehr gut bewährt
Schnelle Hilfe bei Kopfschmerzen
► SCHMERZMITTEL
Sogenannte nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac hemmen Kopfweh rasch und zuverlässig. Eine zu häufige Einnahme sollte allerdings vermieden werden.
► SAUERSTOFFTHERAPIE
100-prozentiger Sauerstoff hilft rund 70 Prozent aller von Clusterkopfschmerz geplagten Patienten. Die Behandlung erfolgt über eine Atemmaske.
► NACKENMASSAGE
Eine klassische Massage lockert die verhärteten Nackenmuskeln und befreit somit von Spannungskopfschmerz. Ebenfalls für sanfte Linderung kann eine Shiatsu-Behandlung durch die angewendete Druckmassage-Technik sorgen.
► PFEFFERMINZÖL
Studien zufolge lindert es akutes Spannungskopfweh genauso wirksam wie das Schmerzmittel Paracetamol. Das Pfefferminzöl dort auftupfen, wo es wehtut (Nacken, Stirn). Alle zwei Stunden wiederholen.