Wenn es um die Zukunft der Arbeit im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung geht, dann würde ich manchmal gerne Politiker einladen, mich auf einer meiner alljährlichen Sommertouren zu den Betrieben unseres Landes zu begleiten. Nirgendwo sonst lässt sich besser zeigen, was uns bevorsteht – und wie man die mannigfaltigen Konflikte, die damit verbunden sind, lösen kann. Aufzeichnungen und Beobachtungen aus diesem Jahr.
Gestartet sind wir in Görlitz, tief in Ostsachsen, an der polnischen Grenze. Besuchsziel waren zwei Werke – die Dampfturbinenproduktion von Siemens und das Bahntechnik-Werk von Bombardier, mit zusammen über 2.000 Arbeitsplätzen. Sie gehören zu den größten Arbeitgebern in der Region, und dennoch drohten in den vergangenen Jahren die Unternehmensleitungen leichthin an, beide Werke zu schließen – mit Verweis auf unmoderne Kraftwerkstechnik und den Wettbewerbsdruck. In der ohnehin strukturschwachen Region waren diese Ankündigungen ein Desaster. Erst seit diesem Jahr, nach rund zwei Jahren Kampf und Diskussionen, gibt es für beide Werke und für die meisten Beschäftigten wieder eine positive Perspektive. Mitten im August feierte Görlitz ein großes Dankesfest, mit einer Messe in der Kirche, Musikbands, Podiumsdiskussion und Hüpfburgen.
In der Neißestadt ist den Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung, mit der Kirche, mit Schulen und Vereinen etwas Ungewöhnliches gelungen: Sie haben gemeinsam dafür gestritten, dass die beiden Werke erhalten bleiben und dass sie modernisiert werden. Sie haben mit den Firmenleitungen Vereinbarungen zu Arbeitsplätzen und zu innovativer, digitaler Weiterentwicklung geschlossen. Und sie haben dabei nicht zugelassen, dass rechtspopulistische Kräfte sich dieser Bewegung bemächtigen konnten.
Bildquelle: Die Mediation, Ausgabe 1/2019
Was wir am Beispiel von Görlitz lernen können
Die Lektionen aus diesen Vorkommnissen sind vielfältig, und sie lassen sich übertragen.
Lektion eins: Die Görlitzer, allen voran die Görlitzer IG Metall, haben nie daran gezweifelt, dass Protest und Gespräche wirkungsvoll sind. Für Gewerkschaften ist das historisches Wissen: Sie sind es schließlich gewesen, die dafür gesorgt haben, dass die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu Beginn der Industrialisierung auf das heutige Niveau gebracht wurden. Es war damals nicht ohne Anstrengung, den Wandel zu gestalten, und auch heute fällt der Erfolg nicht einfach so vom Himmel. Aber er ist möglich. Auf dem Höhepunkt der Proteste haben 7.000 Görlitzerinnen und Görlitzer demonstriert – wenn in Berlin proportional Gleiches geschähe, wären 600.000 Menschen auf der Straße. Wichtig ist auch: Wer den Menschen Mut macht und mit ihnen über Lösungen redet, mindert die Attraktivität rechtspopulistischer Scheinlösungen.
Lektion zwei: Ohne die Mitbestimmungsstrukturen und -instrumente in den Betrieben, ohne Betriebsräte, Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge und ohne die Gewerkschaften vor Ort wären die Betriebe dichtgemacht worden. Genau diese Strukturen stehen aber unter erheblichem Druck: Besonders im Osten Deutschlands, längst aber auch im Westen nimmt die Tarifbindung ab. Im Osten werden nur noch 44 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt (1998: 63 Prozent), im Westen 57 Prozent (1998: 76 Prozent). Betriebsräte werden oft massiv bedroht und bekämpft. Wir Gewerkschaften fordern deswegen dringlich, dass auf gesetzlicher Ebene die Tarifbindung erleichtert und gefestigt wird, dass Betriebsräte früher geschützt werden – und sie in der Digitalisierung mehr Mitspracherechte erhalten.
Fazit: Wer Konflikte lösen will, muss dafür funktionierende Strukturen anbieten und Menschen mitnehmen und mitbestimmen lassen.
Bildquelle: Die Mediation, Ausgabe 1/2019
Lektion drei: Ob Globalisierung, Digitalisierung oder Energiewende – heute und in der Zukunft existieren zahlreiche Risiken für den Arbeitsmarkt. Alle paar Monate erscheinen neue Zahlen, welche Branchen diesen Entwicklungen zum Opfer fallen könnten. Die Betonung liegt auf „könnten“! Görlitz zeigt, dass es darauf ankommt, Chancen zu ergreifen. Die Dampfturbinen von Siemens sind keineswegs veraltete Kraftwerkstechnik, sie können sehr gut Anwendung bei den erneuerbaren Energien finden. In Görlitz wurde auch verstanden, dass die Vorteile der Digitalisierung vor Ort genutzt werden können. Zum Beispiel werden Präzisionsprüfungen der Turbinen an einem „digitalen Zwilling“ vorgenommen und so die Produktion verbessert und wettbewerbsfähiger gemacht.
Digitalisierung braucht einen gesetzlichen Rahmen
Diese Lektionen werden nicht reichen, um den schwelenden Konflikt zwischen der alten Arbeitswelt und der neuen zu bewältigen, aber sie bieten die grundsätzlichen Ansätze dazu: die gelebte Solidarität, die Voraussetzung passender Rahmenbedingungen und der kreative Umgang mit den technologischen Möglichkeiten mit dem Ziel, Menschen und ihre Arbeitsplätze in den Mittelpunkt dieser Technik zu stellen.
Dort, wo neue digitale Geschäftsmodelle entstehen, fehlen vor allem diese gesetzlichen Rahmenbedingungen. Im Besonderen gilt dies für die Plattformökonomie – die Vermittlung von Servicekräften, Lieferservices via App, den Uber-Taxi-Dienst mit seinen Scheinselbstständigen – und das weltweit outgesourcte Click- und Crowdworking für Dienstleistungen. Wer hier seine Arbeitskraft anbietet, ist in einem erschreckenden Ausmaß entrechtet; die Menschen tragen als Selbstständige alle Risiken, müssen sich aber an Vorgaben anpassen wie Arbeitnehmer. Nahezu rechtefrei sind Arbeitnehmer oft auch beim Einsatz digitaler Kontrollsysteme, wie im Fall Amazon, wo Beschäftigte abgemahnt werden, wenn sie sich einige Minuten nicht bewegt haben.
Moderne gesetzliche Rahmenbedingungen sind substanziell, um die Konflikte in den Betrieben, aber auch gesamtgesellschaftlich angehen zu können.
Dynamisch wirkende Start-up-Unternehmen ohne jegliche strukturelle Verständigung über den Wert der Arbeit und gute Arbeitsbedingungen sind vielleicht in Jugendjahren für Beschäftigte und Selbstständige einige Zeit hinnehmbar. Als Basis für eine der modernsten und reichsten Volkswirtschaften der Welt eignet sich dieses Modell nicht. Die von der Hans-Böckler-Stiftung eingesetzte Kommission zur Arbeit der Zukunft hat für moderne gesetzliche Rahmenbedingungen umfangreiche Denkanstöße ausgearbeitet* – jetzt wird es darauf ankommen, dass diese diskutiert werden. Auf dieser Basis, mit neuen Ideen und guter Mitbestimmung, lässt sich die Arbeit der Zukunft gestalten. Wir haben das in der Vergangenheit geschafft, wir schaffen das wieder.
* Jürgens, Kerstin / Hoffmann, Reiner / Schildmann, Christina (2017): Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Bielefeld: transcript. Online abrufbar unter:https://www.boeckler.de/pdf/p_forschung_hbs_189.pdf .
Reiner Hoffmann
seit 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Zuvor hat der Diplom-Ökonom bei der Hans-Böckler-Stiftung und als stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes gearbeitet.
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