... Aufstieg beginnt in einer Region voller Wölfe, Bären und böser Geister
Ursprünglich sind die Stroganows echte Selfmade-Milliardäre, die aus der Eiseskälte des weithin unbekannten Ostens kommen. Sie erkennen das Potenzial des Uralgebietes und Sibiriens zu einer Zeit, als andere dort nur Wölfe, Bären und böse Geister vermuten. Doch die Familie, deren Stammbaum im 14. Jahrhundert beginnt, hat clevere Rechner in ihrer Mitte. Ihre Ahnherren – Spiridon, Kusma, Luka und Fjodor – stoßen mit der nötigen Mischung aus Wagemut, Verschlagenheit und Profitgier in die abgelegenen Regionen vor.
Die ersten Vertreter der Familie, vermutlich bäuerlicher Abkunft, verdienen zunächst im Pelzhandel mit der Stadt Nowgorod ein bescheidenes Vermögen. Dann gelingt es Anika Stroganow Mitte des 16. Jahrhunderts, richtig ins Geschäft einzusteigen, indem er die Salzquellen am Fluss Wytschegda ausbeutet und den Handel mit dem »weißen Gold« energisch vorantreibt. Bald kontrolliert er den Salzhandel mit Moskau und Mittelrussland. Kein Gramm Salz weit und breit, das nicht aus seinen Salinen stammte. Er könnte sich zurücklehnen in seinem 1565 errichteten Firmenpalast aus Holz im Salinen-Dorf Solwytschegodsk, 480 Kilometer südöstlich von Archangelsk, 850 Kilometer nordöstlich von Moskau. Doch das tut er nicht: Auf der Suche nach wertvollen Pelzen, Fellen und Rohstoffen treibt es den Kaufmann mit ungeheurem Tatendrang weiter nach Osten.
»Frisst doch kein Schwein! Ob saure Sahne, Zwiebelring, ob Paprika, ob Pfifferling! Doch als man es aufs Feuer tut, jeder fragt: Was riecht so gut?«
Ballade »Stroganoff« des Kabarettisten Friedrich Hollaender, in der es um die Erfindung des Bœuf Stroganoff geht
Es ist ein geschickter Schachzug der Familie, sich mit den aufstrebenden Moskauer Zaren gut zu stellen und sie mit Geschenken, Steuerleistungen und Krediten gewogen zu halten. Dies trägt seine Früchte, als Iwan IV., der Schreckliche, 1558 Anika und seine Söhne an seinem Hof empfängt und ihnen 15 Millionen Morgen »brachliegendes Land, dichte Wälder, wilde Ströme und Seen« im Vorland des Ural zur Kolonisation verpachtet – ein Gebiet so groß wie Nordrhein-Westfalen. Die Stroganows dürfen dort regieren wie kleine Könige; sie dürfen Siedlungen anlegen, Truppen aufstellen, Salz sieden und Eisenerz ausbeuten.
Ein berüchtigter Kosake überfällt in ihrem Namen eine Tatarenstadt
An der Kama, einem Nebenfluss der Wolga, gründen sie ihre Stützpunkte. Von dort stoßen sie über den Ural hinaus bis nach Sibirien vor, in die Terra incognita des Zarenimperiums, wo reiche Pelzschätze, Zobel, Hermelin, Polarfüchse und Biber locken. Wie ein Abenteuerroman liest sich ihr Vorgehen in Sibirien, wo mit den Tataren die Erben Dschingis Khans herrschen.
Um ihre Karawanen und Handelsorte vor Übergriffen zu schützen, heuern die Stroganows 1581 den berüchtigten Kosaken Jermak Timofejewitsch an und lassen ihn die Tatarenstadt Sibir (heute Qaschliq) erobern. Zwar stirbt der Kosake bei den Kämpfen, doch mit Hilfe des Zaren gelingt es am Ende, die sibirische Horde zu schlagen. Damit ist die Erschließung des Ostens eingeleitet. Es herrscht Goldgräberstimmung, und die Stroganows sind mittendrin.
Etwas von dieser wilden Pionierzeit schlägt sich in den Legenden und Anekdoten um die berühmte Kaufmannsfamilie nieder. Die Stroganows seien selbst tatarischer Abstammung, munkelt man. Und weil sie sich den Moskauer Zaren angeschlossen haben, habe man einem ihrer Angehörigen, der seinen alten Stammesgenossen in die Hände gefallen war, als Verräter das Fleisch bis auf die Knochen abgezogen. Fortan trug seine Witwe den Namen Stroganow, russisch für »schnetzeln, hobeln«, was man sich bei einem Genuss des berühmten Bœuf Stroganoff (das tatsächlich mit »ff« geschrieben wird) nicht weiter ausmalen möchte. Der Kabarettist Friedrich Hollaender widmete diesem maka-bren Ereignis in der Revue »Es ist angerichtet« von 1958 eine Ballade: »Filet Stroganoff« führt die Zubereitung des legendären Gerichtes auf die Wut eines gehörnten Stroganow-Ehemannes auf den Liebhaber seiner Frau zurück, womit er die Lacher auf seiner Seite hat.
Die Gaumenfreude à la Stroganow zeigt noch eine andere Seite der Familie als ihr rücksichtsloses Gewinnstreben. Ein Hauch französischer Leichtigkeit umweht das Gericht, das 1891 auf einem Kochwettbewerb in Paris vorgestellt wird. Es ist kein russisches Nationalgericht, sondern eine Schöpfung der Haute Cuisine. Und sie passt zu den Stroganows, die trotz allem immer auch aufgeschlossene Kosmopoliten waren.
Nicht alle sind wilde Haudraufs, es gibt auch Kunstsinnige und Aufgeklärte
Als Diplomaten des Zaren leben sie häufig im Ausland. In Wien und Paris schätzen sie das schöne Leben. Leidenschaftlich gerne sammeln sie Kunst westlicher Provenienz: Rembrandt, Van Dyck, Poussin, Watteau oder Botticelli, auch der christlich-orthodoxen Kunst fühlen sie sich verbunden. In ihren Werkstätten fördern sie die Ikonenmalerei und prägen dort durch ihre liebliche, feine Figurenauffassung im Kleinformat einen eigenen Stroganow-Stil. Sie stiften Kirchen und Kathedralen, etwa in Solwytschegodsk und Nischni Nowgorod, und berufen für ihren Petersburger Prunkpalast 1753 einen Baumeister italienischer Herkunft, Bartolomeo Rastrelli, der ansonsten nur für den Zaren arbeitet. Passenderweise gehört das mit Kunstschätzen ausgestattete Palais heute zum Russischen Museum.
Einzelne Köpfe des Hauses fördern nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaf- ten. Alexander Stroganow gehört den Freimaurern an und ist Anfang des 19. Jahrhunderts in seinen letzten Lebensjahren Präsident der Kaiserlichen Akademie der Schönen Künste in St. Petersburg und Direktor der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek. Sein späterer Verwandter Sergei Grigorjewitsch Stroganow interessierte sich brennend für die Archäologie und finanziert alljährlich Ausgrabungen im Süden Russlands, um die Schätze der Vergangenheit zu bergen. Seit 1835 amtiert er als Präsident der Moskauer Gesellschaft für Naturforscher.
Doch festhalten können die Stroganows auf Dauer weder ihren Ruhm noch ihren Reichtum. Die Russische Revolution treibt sie ins Exil, wo sich ihre Spuren verlieren. Es bleibt die Erinnerung an rauschhaft-abenteuerliche Zeiten und an lukullische Genüsse, die heute zum Glück jedermann gefahrlos genießen kann.
LESETIPPS
Dittmar Dahlmann: »Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart«. Schöningh 2009, € 49,90
Andreas Kappeler: »Russische Geschichte«. C. H. Beck 2016, € 8,95
Die Stroganows