Seit Jahren doktert die Gematik an der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur herum – ohne Erfolg, wie ein aktueller Prüfbericht des Bundesrechnungshofs (BRH) schonungslos offenlegt. Die Bundesregierung muss sich harsche Kritik gefallen lassen.
Bildquelle: Computerwoche, Ausgabe 11/2019
Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director
Stimmanteile in der Gematik
Für eine momentan noch erfor-derliche Zwei-Drittel-Mehrheit in der Gematik geht nichts ohne den Dachverband der gesetzlichen Krankenkassen.
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Die Zwischenbilanz des BRH zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und der dazugehörigen Telematikinfrastruktur fällt verheerend aus. „15 Jahre nach Beginn des Projekts ist lediglich ein Teil der ärztlichen Praxen an die Telematikinfrastruktur angeschlossen“, heißt es in einem Bericht der Prüfbehörde, der der COMPUTERWOCHE vorliegt. Krankenhäuser und andere Leistungserbringer seien komplett außen vor. Bislang habe die Gesundheitskarte keinen konkreten Mehrwert für Leistungserbringer und Versicherte gebracht. Zwar handele es sich bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens durchaus um eine komplexe und zeitaufwendige Aufgabe, konzedieren die Prüfer. Es sei aber nicht vertretbar, „dass auch nach weit mehr als einem Jahrzehnt das Projekt nur ansatzweise verwirklicht ist“.
Verantwortlich ist aus Sicht des Bundesrechnungshofs die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (Gematik). In dieser Organisation sollten die beteiligten Vertreter des deutschen Gesundheitswesens eigentlich gemeinsam an der Einführung der Gesundheitskarte und dem Aufbau der notwendigen Infrastruktur arbeiten. Doch dieser Plan ging gründlich daneben. Gegensätzliche Interessen führten immer wieder zu Verzögerungen und bremsten die Einführung, heißt es in dem Bericht. Allein bis zum Jahr 2017 habe die Gematik Kosten von 606 Millionen Euro verursacht.
Mit der Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur sollen sämtliche Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen vernetzt werden. Das betrifft rund 170.000 Arzt-, Zahnarzt-und Psychotherapeutenpraxen, 20.000 Apotheken, 2000 Krankenhäuser, 110 gesetzliche Krankenkassen sowie 1200 Vorsorge-und Reha-Einrichtungen. Die ersten Pläne dafür reichen bis ins Jahr 1996 zurück. Damals hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ein Beratungsunternehmen mit einer Studie zur Telematik im Gesundheitswesen beauftragt. Einen ersten rechtlichen Rahmen schuf das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2004. Ein Jahr darauf wurde die Gematik gegründet, die auf Basis des sogenannten Telematikgesetzes den weiteren Ausbau der Infrastruktur vorantreiben sollte.
Doch hier ging es nur schleppend voran. Dem Bundesrechnungshof zufolge hat es sich nicht bewährt, „die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur den Spitzenorganisationen zu übertragen“. Die Organisations-und Entscheidungsstruktur der Gematik unterstütze nicht ausreichend ihren gesetzlichen Auftrag, die Telematikinfrastruktur zu schaffen. Seit dem Gründungsjahr 2005 habe es massive Verzögerungen gegeben. Erst mit dem E-Health-Gesetz ab dem Jahr 2015 hätten sich Fortschritte abgezeichnet – aber nur, weil von diesem Zeitpunkt an Fristen gesetzt, Sanktionen und Ersatzvornahmen eingeführt worden seien.
„Zuständigkeit der Gematik durchbrechen“
Der Bundesrechnungshof empfiehlt, eine andere Organisationsstruktur für die Einführung der Telematikinfrastruktur und weiterer Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte zu schaffen. Diese sollte so beschaffen sein, dass Entscheidungsprozesse unterstützt und nicht durch unterschiedliche Interessen verzögert würden. Die Prüfer raten daher, „die Allzuständigkeit der Gematik zu durchbrechen“. Richtungsweisende Entscheidungen sollten vom Bundesgesundheitsministerium selbst oder einer von ihm beeinflussbaren Organisation im Sinne eines Top-down-Ansatzes getroffen werden können.
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Ob das Ministerium dazu in der Lage ist, bleibt zweifelhaft. Schließlich muss sich auch die Politik von den Rechnungsprüfern Versäumnisse ankreiden lassen. Seit Inkrafttreten des Telematikgesetzes im Jahr 2005 seien die gesetzlichen Vorgaben zur Architektur nicht mehr angepasst worden, heißt es seitens des BGH. Es stehe zu befürchten, dass sie nicht mehr zeitgemäß seien.Das Ministerium habe es zudem versäumt, einen einheitlichen Rechtsrahmen für die elektronische Patientenakte (ePA) der Krankenkassen sicherzustellen. Erst bis zum 31. Dezember 2018 habe die Gematik technische Vorgaben dafür vorlegen müssen. Das Urteil des Bundesrechnungshofs zur Rolle des Ministeriums: „Das BMG hat die Einführung eines elektronischen Gesundheitswesens nicht angemessen gestaltet und gesteuert.“
Das mittlerweile vom CDU-Politiker Jens Spahn geführte Ministerium reicht den Schwarzen Peter indes gleich weiter. Seit dem E-Health-Gesetz hätten nicht fehlende Entscheidungen der Gematik zu Verzögerungen geführt, sondern verspätete Lieferungen der Industrie, so die Replik des Ministeriums auf den Prüfbericht. Die derzeit praktizierte „Systematik aus Anreizen und Sanktionen“ zeige bereits Wirkung. Die Selbstverwaltung habe die vom BMG gesetzten Fristen weitgehend „abgearbeitet“. Jetzt finde der Rollout statt und alle Beteiligten würden mit den Umsetzungsproblemen der Industrie konfrontiert.
Schon vor dem Start technisch überholt
Die Opposition geht derweil mit Regierung und Gesundheitsministerium hart ins Gericht. „Die Kosten für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sind völlig aus dem Ruder gelaufen“, kritisiert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete von „Die Linke“. Aus Sicht von Maria Klein-Schmeink, der gesundheitspolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, räche es sich nun, dass es seit Jahren keine Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gebe. „Der Minister redet lieber über die Blockchain, statt eine stringente Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorzulegen.“
Andrew Ullmann, Gesundheitsexperte der FDP und Medizinprofessor, vergleicht die Einführung der eGK und Telematikinfrastruktur mit dem desaströsen Verlauf des Berliner Großflughafen-Projekts: „Nahezu 20 Jahre hat die Politik im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens versagt.“ Die Gematik wirke eher wie eine mittelmäßige Theateraufführung und nicht wie ein modernes IT-Unternehmen, das Innovation und Datensicherheit zusammenbringen soll, moniert der FDP-Politiker. „Wie bei der Berliner Flughafenruine BER ist davon auszugehen, dass die Telematikinfrastruktur und die elektronische Gesundheitskarte längst technisch überholt sein werden, bevor sie richtig funktionieren.“ Ullmann fordert daher: „Die Gematik muss aufgelöst werden.“
Kostenanstieg im Gesundheitswesen
2017 stiegen die Gesundheitsausgaben in Deutschland um knapp fünf Prozent auf den Rekordwert von 374 Milliarden Euro. Die Verursacher im Überblick:
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Große Einsparungen wären möglich
Es gibt offenbar viel Potenzial, die Kosten im deutschen Gesundheitswesen zu senken. Milliarden Euro würden zum Fenster hinausgeworfen, weil es mit der Digitalisierung nur im Schneckentempo vorangehe, kritisierte im Herbst 2018 McKinsey. Bis zu 34 Milliarden Euro könnten allein 2018 eingespart werden, wenn im Gesundheitswesen die digitalen Chancen genutzt würden.
„Deutschland diskutiert, unsere Nachbarn sind schon weiter“, heißt es ein wenig hämisch in der Untersuchung. In Österreich etwa begleite die elektronische Gesundheitskarte die Bürger längst von Arzt zu Arzt und auch ins Krankenhaus. In Ländern wie Schweden, Dänemark, Estland und Italien verschickten Ärzte elektronische Rezepte an Patienten oder direkt an die Apotheke, die dann die Medikamente ausliefere. McKinsey riet den Akteuren im hiesigen Gesundheitswesen dringend, endlich die elektronische Gesundheitsakte und das E-Rezept einzuführen.
Tatsächlich scheint man auch im BMG allmählich die Geduld zu verlieren. Mit einem Änderungsantrag zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) will Spahn offenbar die Gesellschafterstrukturen der Gematik tiefgreifend verändern. Das Ministerium plant, mit einem Anteil von 51 Prozent selbst Gesellschafter der Gematik zu werden. Bislang hielt der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen 50 Prozent. Die andere Hälfte teilten ärztliche, zahnärztliche und apothekergetragene Interessenverbände unter sich auf. Beide sollen künftig nur noch jeweils 24,5 Prozent kontrollieren. Darüber hinaus will Spahn die Entscheidungswege beschleunigen. War bis dato eine Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Beschluss erforderlich, soll künftig eine einfache Mehrheit reichen. So will der Minister Tempo machen. Schließlich hat er sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2021 sollen die Krankenkassen verpflichtet werden, ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte anzubieten.
In den Reihen der Gematik-Gesellschafter ist man empört über den Vorstoß des Ministeriums. Ärztevertreter warnten davor, die im Koalitionsvertrag bestätigte Selbstverwaltung im Gesundheitswesen durch einen „staatsdirigistischen Eingriff“ auszuhebeln. „Das wäre ein Systembruch, den wir strikt ablehnen“, sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Damit würden Kompetenzen, Zuständigkeiten und Finanzierung zwischen staatlichen Institutionen und der gemeinsamen Selbstverwaltung vermischt, was zu Intransparenz und unklaren Verantwortlichkeiten führe, hieß es von Seiten des Spitzenverbands der Krankenkassen. Schließlich habe es auch in den Jahren 2005 bis 2010, als das Gesundheitsministerium per Rechtsverordnung die Entscheidungsgewalt in der Gematik innehatte, keine Fortschritte beim Aufbau der Telematikinfrastruktur gegeben.
Aus Sicht der Krankenkassen seien die Verzögerungen darauf zurückzuführen, dass die Industrie mit der Produktion der notwendigen Geräte nicht hinterherkomme. Auch eine mehrheitliche Übernahme durch das Ministerium werde kaum dazu führen, dass die Anbieter schneller arbeiteten. Probleme in der Arbeit der Gematik gebe es nicht. Mittlerweile ständen alle erforderlichen Komponenten für die Anbindung medizinischer Einrichtungen an die Telematikinfrastruktur zur Verfügung, versicherte im vergangenen Jahr Alexander Beyer, Geschäftsführer der Gematik. Aktuell würden alle Praxen und Krankenhäuser nach und nach angeschlossen.
Gewollte Intransparenz?
Allerdings bleibe noch viel zu tun, räumte Beyer damals ein. Man arbeite mit Hochdruck an den technischen und organisatorischen Standards für eine sichere, funktionale und praktikable elektronische Patientenakte. Hier liege die Gematik voll im Plan und werde noch 2018 ein Konzept präsentieren. Tatsächlich hat die Gematik kurz vor Weihnachten Vorgaben für die ePA veröffentlicht. Nun sei die Industrie gefragt, ihre Produkte zu entwickeln und deren Zulassung bei der Gematik zu beantragen.
Insider argwöhnen indes, dass Kassen, Apotheken und Ärzten gar nicht daran gelegen sei, die Digitalisierung im hiesigen Gesundheitswesen voranzutreiben. Schließlich würden elektronische Gesundheitskarte und Patientenakte auch mehr Transparenz bedeuten. Versicherte erhielten Einblick, was Ärzte und Krankenhäuser abrechneten. Und das ist ein Milliardengeschäft. 2016 wurde hierzulande erstmals mehr als eine Milliarde Euro pro Tag für Gesundheit ausgegeben, meldete das Statistische Bundesamt vor einem Jahr. Für 2017 prognostizierten die Statistiker einen Anstieg der Kosten um 4,9 Prozent auf insgesamt 374,2 Milliarden Euro. Finanziert werden die Gesundheitsausgaben von Staat, Privathaushalten und Unternehmen.