... Jack Cooper und Simon Paco schrieben die Übersetzung, die sich der Musik gut anpasst. Vor 25 Jahren, am 12. Juli 1993, fand die Uraufführung des Musicals in London statt, und der Komponist selbst verlangte, dass die Erstaufführung in Brüssel genau an diesem Datum stattfinden müsse. Grundlage des Musicals bildet der gleichnamige Film von Billy Wilder aus dem Jahr 1950, mit Gloria Swanson als Norma und William Holden als Joe.
Die Bühne besteht aus einem unteren Teil, dessen drei Räume jeweils durch Schiebetüren geöffnet werden, und einer Etage darüber, auf der abwechselnd ein Büro oder ein Partyraum aufgebaut wird und sich die Eingänge zu den Schlafzimmern von Joe und Norma befinden. Links unten befindet sich der Pool der einstigen Nobelvilla am Sunset Boulevard in Los Angeles, die nun einen heruntergekommenen Eindruck hinterlässt. In der Mitte und rechts werden je nach Szene der Salon der Villa oder Studios aufgebaut.
Um den Pool herum stehen Polizisten. Die Leiche vom Drehbuchautor Joe Gillis (Gaétan Borg) wurde hier gefunden. Einen Moment später steht Joe auf der Bühne und erzählt, wie es zu seinem Tod kam. Er hat Schulden, aber kein Produzent in Hollywood will ihn engagieren, auch nicht sein »guter« Freund Sheldrake (Floris Devooght). Bei ihm läuft Joe die attraktive Betty Schaefer (Oonagh Jacobs) über den Weg, die mit seinem Kumpel Artie Green (Steven Colombeen) verlobt ist. Doch Joe wird von zwei Geldeintreibern gesucht und flüchtet in seinem Auto. Dazu dient der untere mittlere Teil, wo im Dunkeln Scheinwerfer zu sehen sind und die Darsteller in Autositzen von Helfern hin und her geschoben werden.
Joe gelingt die Flucht und er landet am Sunset Boulevard in der Villa von Norma Desmond (Anne Mie Gils), die ein Star der Stummfilmära in Hollywood war, aber mittlerweile fast vergessen ist. Sie hält ihn für einen Bestatter, der ihr Haustier, einen Affen, beerdigen soll. Butler Max (Franck Vincent) kümmert sich liebevoll um die alte Dame. Als sie erfährt, dass Joe Drehbuchschreiber ist, bittet sie ihn, ihr Skript zu einem Film über Salomé zu überarbeiten. Der bankrotte Joe nimmt an. Er wohnt über der Garage und macht sich daran, das ellenlange Drehbuch zu bearbeiten, doch Norma ist hartnäckig und lässt kaum Kürzungen zu. Heimlich schleicht sich Joe aus dem Haus und begegnet Betty erneut. Die beiden entschließen sich, ein altes Skript von Joe zu überarbeiten, während sich dieser in der Villa täglich zusammen mit Norma und Max alte Filme der Diva ansehen muss. Schließlich verliebt sich Betty in Joe, der verzweifelt ist, weil er nicht mehr so einfach in sein eigenes Leben zurück kann.
Anne Mie Gils ist das absolute Glanzlicht dieser ersten französischsprachigen Aufführung von Andrew Lloyd Webbers Klassiker. Beim ersten Hitsong ›D'un regard / Nur ein Blick‹ zeigt sie ihr ganzes Können und erzeugt mit ihrer starken Stimme beim Publikum Gänsehaut. Außerordentlich ist auch ihr Mienenspiel: So wechseln ihre Gesichtsausdrücke zu Normas jeweiligen Gemütszuständen von verbissen über enttäuscht, bis hin zu verliebt, und man merkt ihr ebenfalls den nicht mehr aufzuhaltenden Wahnsinn an. Ganz tief unter die Haut geht auch ›Bonne année, mon chéri / Ein gutes Jahr‹, in dem sie eine rosige Zukunft mit Joe voraussieht, der nun die Flucht nach vorne ergreift und eine Silvesterparty bei Artie besucht. Doch er kehrt in die Villa zurück, weil Norma sich aus Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten hat.
Ein weiterer großer Moment ist Normas Auftritt in den Filmstudios. Im Glauben, Regisseur Cecil B. De-Mille (Guy Pion) hätte sie gerufen, um mit ihr über »Salomé « zu reden, genießt sie den Augenblick der Rückkehr an die Stätte ihrer Glorie mit ›Comme si on s'était jamais quitté / Als hätten wir uns nie Goodbye gesagt‹, ein wunderbar bewegender Moment. In dieser Szene fährt Max mit einem echten Rolls-Royce-Oldtimer an den Rand der Bühne, denn es war Produzent Sheldrake, der das Auto für Dreharbeiten mieten wollte.
Norma erfährt von Joes heimlichen Begegnungen mit Betty und warnt sie am Telefon vor Joe. Dieser bekommt dies allerdings mit und bittet Betty, selbst herzukommen, um sich ein Bild zu machen. Er erzählt ihr, wie er Norma kennenlernte, und bittet sie, ihn, trotz seiner Zuneigung zu ihr, zu vergessen und zu Artie zurückzukehren. Verbittert verlässt Betty die Villa. Joe konfrontiert Norma mit den Realitäten ihres Lebens: Sie erfährt, dass Max ihre Fanbriefe schreibt und »Salomé « nicht verfilmt werden wird. Als Joe ihr zudem zu verstehen gibt, dass er sie nun endgültig verlassen wird, erschießt sie ihn. Max gelingt es, die anstürmende Presse zu bremsen und ihre Kameras für einen letzten Dreh der großen Norma Desmond zu nutzen.
Gegen eine solch großartige Darstellerin wie Anne Mie Gils hat es der Rest des Ensembles nicht einfach. Als erster muss Gaétan Borg seine Rolle als Drehbuchautor, der ungewollt zum Liebhaber einer alten Dame wird, die nicht mehr ganz bei Sinnen ist, mit voller Überzeugung spielen. Das gelingt ihm problemlos. Sein gesanglicher Höhepunkt ist ›Sunset Boulevard‹, in dem er zeigt, dass er eine sehr gute Stimme hat. Schauspielerisch gefällt er ebenfalls: In Gegenwart von Betty kann er sich ganz leger geben, dagegen begegnet er Norma am Anfang mit Bewunderung, dann aber mit Zurückhaltung, ja fast schon mit Angst.
Oonagh Jacobs hat eine schöne und klare Stimme, die sie in Bettys Duett mit Joe, ›Elle et lui / Sie trifft ihn‹, unter Beweis stellt.
Franck Vincent spielt Max von Mayerling, der einst mit Norma verheiratet war, auf eine bemerkenswerte Art und Weise. Er zeigt in seinem Spiel kaum Regungen, und doch merkt man ihm alle seine Gefühle an: Von der nie endenden Bewunderung für seine Frau, die einstige Diva, singt er in seinem starken Lied ›L'étoile parmi les stars / Kein Star wird jemals größer sein‹, dem er mit seiner dunklen Stimme viele Emotionen verleiht, bis hin zu der Feststellung, dass Norma dem Wahnsinn nahe ist und er alles tun muss, um sie in ihrer eigenen Realität zu belassen. Er ist dieser Frau hörig, und doch kann er sie nicht retten.
Somit ist die erste französische Fassung von »Sunset Boulevard« ein meisterlicher Leckerbissen geworden. Man darf gespannt auf »My Fair Lady« sein, das 2019 auf dem Programm steht.
1. Immer wieder müssen sich Max (Franck Vincent, l.) und Joe (Gaétan Borg, r.) mit Norma (Anne Mie Gils) alte Filme der Diva anschauen
2. Norma (Anne Mie Gils) singt im Filmstudio ›Comme si on s'était jamais quitté‹ und glaubt, sie würde bald wieder drehen
Fotos (2): Festival Bruxellons!
3. Joe (Gaétan Borg) und Betty (Oonagh Jacobs) schreiben an einem Drehbuch
4. Joe (Gaétan Borg, Mitte) wird von Manfred (Antonio Macipe, 3.v.r. mit Ensemble) neu eingekleidet
Fotos (2): Festival Bruxellons! / Gregory Navarra