... ist, darüber existieren heute unterschiedliche Interpretationen. Manche bezeichnen Gencic als Ex-Trainerin von Seles, was aus dem Umfeld der großen Steffi-Graf-Rivalin bestritten wird. Fest steht, dass Gencic für die Jugendförderung der jugoslawischen Tennistalente verantwortlich ist, als die Teenagerin Seles ihre ersten Turniere bestreitet. Auch mit dem jungen Goran Ivanisevic, der heute Trainer von Novak Djokovic ist, tourt Gencic über die Tennisplätze Europas – oder besser gesagt: dorthin, wohin es das kommunistische Regime erlaubt.
Jelena Gencic hat ihren Sport im ehemaligen Jugoslawien als Amateurin betreiben müssen. Nun erwartet man von der einstigen Vorzeigeathletin, dass sie ihrem Land etwas zurückgibt. Schon mit Anfang 30 beginnt Gencic, mit talentierten Jugendlichen zu arbeiten. Es wird ihre große Leidenschaft. Wobei sie nie eine Ausbildung zur Tennistrainerin absolviert hat. Kunstgeschichte hat Jelena Gencic studiert, einen Uni-Abschluss in Psychologie besitzt sie. Aber es ist die Arbeit mit den jungen, talentierten Kindern auf dem Tennisplatz, in der sie vollkommen aufgeht. Die Kids folgen ihr, weil sie als Trainerin und Mensch gleichermaßen Respektsperson ist. Als Jelena Gencic ihre Trainerkarriere in den späten 1960er-Jahren startet, ist sie eine Exotin. Eine Frau in einer solchen Position ist im patriarchischkommunistischen Jugoslawien des gestrengen Ministerpräsidenten Josip Broz Tito die totale Ausnahme.
Doch Gencic, die hauptberuflich als Fernsehproduzentin für das Staatsfernsehen arbeitet, lässt sich nicht von ihrem Weg abbringen, Anfang der 1990er-Jahre landet sie schließlich in Kopaonik. Der Bergort an der Grenze zum Kosovo ist ein beliebtes Winterurlaubsziel. Mit Schneesicherheit, Lifts, Hotels und gut präparierten Pisten. Im Sommer herrscht dagegen Flaute. Mit einem Tenniscamp für Kinder will Gencic Familien auch zu dieser Zeit in die Region locken. Für die veranschlagten neun Wochen täglicher Arbeit auf dem Tennisplatz erhält sie kein Honorar, Gencic reicht es, wenn der jugoslawische Verband ihr das Essen und die Unterkunft stellt. Von ihrem Arbeitgeber, dem Sender Radio Television Belgrad, erhält sie Extraurlaub für das Camp in den Bergen von Kopaonik.
Schon am ersten Tag fällt ihr dort ein kleiner Junge auf, der das Training von der anderen Seite des Zauns aus genau beobachtet, geradezu zu studieren scheint. Vom Morgen an spaziert der stille Zuschauer Stunde um Stunde um die Anlage herum. Ehe sie die Kinder um kurz nach zwölf Uhr zur Mittagspause ruft, geht Jelena Gencic zu dem kleinen Jungen hinüber. „Hallo, weißt du denn, was die hier spielen“, fragt sie.
„Ja, klar. Das ist Tennis“, antwortet der Zaungast.
„Wie alt bist du denn?“, will Gencic wissen. „Sechs.“
„Hast du Lust, heute Nachmittag mit uns zu spielen?“
„Ja. Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass Sie mich das fragen.“
„Okay. Dann kannst du heute Nachmittag um 14 Uhr mit uns spielen. Wie ist denn dein Name?“
„Novak Djokovic.“
Der erste Dialog zwischen Jelena Gencic und Novak Djokovic ist beendet. Dem britischen Journalisten und Tennishistoriker Chris Bowers hat es Jelena Gencic so im März 2013 in den Block diktiert, zwei Monate vor ihrem Tod. Sie habe, sagte Gencic Bowers im Gespräch, den anderen Trainern sofort von diesem Jungen am Zaun berichtet: „Schaut ihn euch nachher genau an. Besonders seine Augen. Andere Jungs in seinem Alter wandern mit den Augen hin und her, wenn man sie anschaut. Er nicht. Er konnte meinen Blick aushalten. Das erlebt man ganz selten. Er war hier ganz allein. Ohne Eltern. Ohne irgendjemand. Das ist außergewöhnlich.“
Auch Novak Djokovic hat diese folgenschwere Begegnung mit Gencic ähnlich in Erinnerung. In einer Dokumentation des serbischen Fernsehens besucht der inzwischen zum Superstar aufgestiegene Djokovic seine erste Trainerin 2012 in Belgrad. Auf dem Sofa im wenig feudalen Wohnzimmer von Gencic erzählt Djokovic die Geschichte vom ersten Kennenlernen, er hat seiner Gastgeberin ein kleines Präsent mitgebracht: eine Miniaturausgabe des Wimbledon-Pokals, den er ein Jahr zuvor erstmals hatte gewinnen können.
Im Juni 1993 ist Wimbledon noch weit weg. In Kopaonik kann es ein kleiner Junge kaum erwarten, am Nachmittag mit den anderen Kindern des Tenniscamps auf dem Platz zu stehen. Eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Treffen blickt Jelena Gencic aus dem Fenster ihres Appartements. Am Eingang zu den drei Sandplätzen steht schon der kleine Junge vom Vormittag. Mit einer Sporttasche in der Hand. „Was hast du denn eingepackt?“, fragt Jelena Gencic den Jungen, als sie ihm wenige Minuten später gegenübersteht. „Einen Schläger. Eine Flasche Wasser. Zwei Schweißbänder. Ein Handtuch. Eine Banane. Und drei saubere T-Shirts“, sagt Djokovic. „Woher wusstest du, was du alles brauchst?“ „Das habe ich im Fernsehen gesehen. Bei Sampras, Agassi und Edberg.“
Anfang Juli 1993 läuft die zweite Woche in Wimbledon, dem prestigeträchtigsten Turnier der Tenniswelt. Die Spiele werden vom jugoslawischen Staatsfernsehen übertragen. Der kleine „Nole“ sitzt vor dem Fernseher. Fasziniert verfolgt er die Duelle auf dem heiligen Rasen. Ein junger Amerikaner begeistert ihn: Pete Sampras, der im Endspiel seinen Landsmann Jim Courier in vier Sätzen in die Knie zwingt und den ersten seiner sieben Wimbledon-Titel gewinnt.
Erst viele Jahre später wird Djokovic einräumen, dass die Anekdote von der selbst gepackten Tasche nicht ganz der Wahrheit entspricht. Seine Mutter Dijana, gibt er im Dezember 2012 zu, habe die Tasche für sein erstes Tennistraining gepackt, allerdings habe er ihr genaue Anweisungen gegeben, was sie ihm mitgeben müsse. Auch nicht selbstverständlich für einen Sechsjährigen, der Tennis bis dahin nur aus dem TV kennt.
Es folgt die erste Trainerstunde im Leben von Novak Djokovic. Gencic beschreibt diese rückblickend als ein Aha-Erlebnis, wie sie es davor nur bei Monica Seles gehabt habe. Allerdings ist möglich, dass Gencic diese erste Einheit mit „Nole“ verklärt. Zumindest gibt es viele Wegbegleiter, die zwar eine besondere Begabung des jungen Djokovic erkannt haben – aber eine Weltkarriere hat ihm deswegen keiner zugetraut. Gencic jedenfalls lässt den Jungen, der sich noch am Vormittag die Nase am Zaun plattgedrückt hat, nicht mehr gehen.
Sie vergeudet keine Zeit. Nach ersten Gesprächen mit den Eltern Srdjan und Dijana Djokovic steht für sie fest: Dieser „Goldjunge“ Novak ist ab sofort meiner. Sie arbeitet ein detailliertes Trainingsprogramm aus. Nicht nur für die Wochen im Camp in Kopaonik, sondern gleich für die kommenden fünf Jahre. Sie spricht mit Lehrern, Vereinstrainern und immer wieder mit Novaks Eltern. Betont jedes Mal die Einmaligkeit des Jungen. Eines der größten Probleme auf dem Weg nach oben ist schnell ausgemacht: die Schulpflicht. Novak geht in Belgrad zur Schule.
Gencic hingegen gibt aufgrund der hohen Nachfrage immer mehr Tenniscamps in Kopaonik. Zunächst versucht die Familie, eine Schule für Novak in den Bergen zu finden. Doch es gibt keine in unmittelbarer Nähe. Also besucht Novak weiterhin seine Belgrader Schule, während die Eltern große Teile des Jahres im Skirestautrant „Red Bull“ verbringen und in ihrer Boutique, die sie in der Zwischenzeit in dem Wintersportort zusätzlich eröffnet haben. Während seine Eltern in Kopaonik das Geld für die Tenniskarriere verdienen, lebt Novak bei Großvater Vlado, dem Vater von Srdjan Djokovic. So hart und unnahbar Srdjan oft wirkt, so einfühlsam und offen wird Vlado Djokovic von denen charakterisiert, die ihn persönlich kannten. Er lebt in einem Plattenbau etwa sieben Kilometer südlich vom Zentrum Belgrads entfernt, im Stadtteil Banjica. Damals lebte hier die Mittelschicht des kommunistischen Jugoslawiens, heute ist Banjica ein sozialer Brennpunkt.
Die Suche nach der Wohnung von Vlado Djokovic gestaltet sich einfach. An der Außenwand des Hauses prangt direkt unter der Wohnung im ersten Stock ein nicht zu übersehendes Graffiti, das Novak Djokovic zwischen Jelena Gencic und seinem Opa Vlado zeigt. Etwa drei mal zehn Meter groß ist das Kunstwerk. Gencic hat stets nur in den besten Tönen von Opa Vlado gesprochen: „Ich wusste, dass er dort in den besten Händen ist“, fasst sie im Buch von Chris Bowers ihr Gefühl gegenüber dem Belgrader Ziehvater ihres Schülers zusammen.
Über ihre guten Verbindungen in Regierungskreise schafft es Gencic, dass Novak beim einstigen Armeesportklub Partizan Belgrad trainieren darf. Immer an ihrer Seite, sofern sie nicht andernorts Tennis-Camps geben muss. Jelena Gencic gelingt es regelmäßig, eine Woche Extra-Schulurlaub für ihren Musterschüler zu verhandeln, damit Novak länger am Stück mit ihr in den Bergen trainieren kann.
Bei Opa Vlado spielt indes nicht nur Tennis eine große Rolle. Zwischen den gigantischen Plattenbauten liegt ein Fußballplatz – ebenfalls aus Beton. Dort bolzt Novak nach der Schule mit seinen Freunden. Oder er spielt eine Runde Basketball, denn einen Korb gibt es dort ebenfalls. Für die Kinder von Banjica ist es der Sport-Himmel in einer zusehends tristeren Welt, und „Nole“ gehört in jeder Sportart zu den Besten. Er lernt aber auch, dass es im Mannschaftssport nicht auf den Einzelnen ankommt. Freunde berichten heute noch von seinem großen Einsatz fürs Team. Der Beton um ihn herum hat zudem den Vorteil, dass er nahezu jede Ecke des Wohnblocks in eine Tenniswand verwandeln kann.
Novak lernt Sprachen, fünf spricht er fließend
Die meiste Zeit ist allerdings für das Training mit Jelena Gencic reserviert. Sie wohnt am Rande von Banjica und steht den ganzen Tag auf den Ascheplätzen des Geländes von Partizan. Am liebsten mit „Nole“. Dabei bringt Gencic ihrem Schützling nicht nur den richtigen Vorhandschwung und korrekten Ballwurf bei. Sie weiß: Will es dieser Junge auf die Profitour schaffen, muss er auch abseits des Platzes bestehen. Er muss Sprachen beherrschen, damit er nicht als verschlossene „Balkan-Maschine“ wahrgenommen wird. Heute spricht Djokovic fünf Sprachen fließend: Serbisch, Englisch, Italienisch, Französisch und Deutsch. Nicht jede dieser Sprachen hat er von Gencic gelernt. Aber sie schafft bei ihm das Bewusstsein für Kommunikation auf Augenhöhe. Auch als Zeichen des Respekts für das Gegenüber.
Djokovic freut sich übrigens bis heute, wenn er auf Deutsch angesprochen wird. Aus seiner Zeit in München bei Trainerlegende Niki Pilic beherrscht er die Sprache noch gut. Auch als Boris Becker später als Trainer an seiner Seite ist, kommuniziert er mit dem gebürtigen Leimener auf Deutsch. In Serbien macht er sich mit seinem Sprachtalent gleichwohl nicht nur Freunde. Weil er im Ausland auf seine serbische Muttersprache verzichtet, unterstellen ihm einige seiner Landsleute fehlenden Patriotismus, bezeichnen den Tennisstar als anbiedernd und unterwürfig. Novaks Eltern sprechen trotz ihrer inzwischen vielen Reisen um die Welt wenig Englisch. Auch ein Grund, warum sie – allen voran Srdjan – nicht-serbischen Medien äußerst selten Interviews geben.
Jelena Gencic beschränkt ihre Erziehung abseits des Platzes nicht ausschließich auf Sprachen. Sie hat die Etikette umfänglich im Blick. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten erklärt sie „Nole“, welche Gabel für den Salat und welche für den Hauptgang gedacht ist. Er bekommt Dinge beigebracht, die ihm seine hemdsärmeligen Eltern – nicht nur aus Zeitgründen – nicht vermitteln können.
Jelena Gencic kann es. Jelena Gencic macht es. Zur Entspannung hört sie oft klassische Musik. Und spielt sie auch Novak vor. Der Junge im Kindergartenalter lauscht den Klängen zunächst ungern, im Laufe der Zeit jedoch bemerkt die Klassik-Liebhaberin, wie Novak immer wieder vor der Tür stehen bleibt, wenn sie ihre Musik spielt. Sie erklärt ihm die Hintergründe zu einzelnen Passagen, Nole hört ihr einfach nur zu. Speichert ab. Wie immer, wenn Gencic mit ihm spricht. Er saugt alles auf, was sie ihm zu sagen hat. Es bleibt eine jener Eigenschaften, die bis heute jeder herausstellt, der mit ihm näher zu tun hat. Vom Physiotherapeuten bis zum Manager. „Er machte so unglaublich schnelle Fortschritte“, erinnert sich Gencic an die gemeinsamen Anfangsjahre zwischen Belgrad und Kopaonik.
In Blockbuster-Filmen wie „Rocky“ oder „Karate Kid“ sind das jene Passagen, in denen die Stars zu opulenter Musik ihre Trainingseinheiten bis zur Perfektion absolvieren. Rocky Balboa stapft durch den Schnee Sibiriens, räumt Baumstämme aus dem Weg. Oder Karate-Tiger Daniel-san, der nach den eindringlichen Worten seines Lehrmeisters Mister Miyagi erkennt, dass er mit dem Waschen eines Autos seine Technik für den perfekten Kampfmoment verfeinert. Momente totaler Fokussierung. Hollywood-Kitsch. So nah an der Wahrheit wie die Boxkämpfe von Rocky Balboa.
Die Erzählungen von Gencic und Djokovic ähneln diesen filmischen Inszenierungen. Und auch wenn sie sich nur in den Köpfen der beiden so abgespielt haben, ihren Anteil an der Karriere des erfolgreichsten Tennisspielers aller Zeiten haben sie. Gencic bringt Djokovic schon früh mit einer Technik in Verbindung, die heute Standard im mentalen Training von Spitzensportlern ist: dem Visualisieren. „Stell dir vor, wie du den Wimbledon-Pokal in der Hand hast. Was siehst du?“, fragt sie ihn immer und immer wieder. Und es reicht ihr nicht, dass Novak antwortet: „Einen Pokal.“ Sie fordert ihn auf, die Trophäe detailliert zu beschreiben. Fragt ihn, welches Bild er im Kopf hat. Was hat er an? Was hat der Schiedsrichter an? Wer sitzt in seiner Box? Wie riecht das Gras? Jede noch so kleinste Nuance muss der Junge in Worte fassen und mit allen Sinnen vorfühlen.
Aus dieser Zeit stammen auch die ersten öffentlichen Videos von Novak Djokovic. Eines zeigt ihn als Sechsjährigen auf dem Tennisplatz von Kopaonik. In grelle Neonfarben gehüllt kann der kleine „Nole“ gerade mal über das Netz blicken. Er spielt ein paar Bälle mit Vater Srdjan. Beide sind auf dem gleichen Niveau. Novak feiert jeden Punktgewinn mit lautem Geschrei und ballt dabei die Faust. Bei einem Punktverlust sinkt er vor Enttäuschung auf die Knie.
Eine andere Sequenz zeigt ihn in einem Match mit einem Jungen, der mindestens vier, fünf Jahre älter ist. Novak kann immer noch nur gerade so über das Netz schauen, den Aufschlag beherrscht er schon außergewöhnlich gut. Doch einem langen Return seines körperlich klar überlegenen Gegners hat er nichts entgegenzusetzen. Nach einem Vorhandfehler ist das Match beendet. Novak verliert. Nach dem Handshake am Netz bricht er in Tränen aus und muss von Freunden getröstet werden. Der große Ehrgeiz eines großen Talents.
In einem dritten Video sitzt er mit umgedrehter Baseballkappe in einer Art Fernsehstudio und wird von einem anderen Kind interviewt. „Was liebst du am Tennis am meisten?“, will der Fragensteller wissen. „Die Vorhand. Die Rückhand. Und die Volleys. Weil ich damit meine Gegner besiege.“
„Wie oft spielst du?“
„Die ganze Nacht. Tagsüber habe ich Schule. Dann habe ich Training am Nachmittag. Spiele aber danach weiter bis in die Nacht.“ „Und was ist dein Ziel im Tennis?“, beschließt der etwas ältere Junge das Interview.
„Die Nummer eins der Welt zu werden.“ Djokovic sagt es mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die diesen siebenjährigen Jungen schlagartig unsympathisch erscheinen lässt. Nicht jedes Tennistalent, das die Nummer eins der Welt als Ziel ausgibt, hält Wort. Djokovic schon. Weil er sich nicht aufs Träumen beschränkt. Weil er seinen Traum mit Leben füllt. Und mit schier unmenschlichem Einsatz. Sein großes Glück: Um ihn herum sind Menschen, die den unbändigen Ehrgeiz dieses Goldjungen in die richtigen Bahnen lenken. Allen voran Jelena Gencic.