... Bibel ursprünglich entstanden? Wie und von wem wurde entschieden, was darin steht? Und welche falschen Mythen halten sich beharrlich über das Buch der Bücher? Seit Jahrhunderten beschäftigten sich Forscher in aller Welt damit, die geheime Geschichte der Bibel zu entschlüsseln. Einer der renommiertesten von ihnen ist Bart D. Ehrman. Der US-Amerikaner ist Professor für Religionswissenschaften an der University of North Carolina und zudem „New York Times“-Bestseller-Autor (u. a. „Jesus im Zerrspiegel“, zuletzt „Heaven and Hell: A History of the Afterlife“, Simon & Schuster, 2020).
„Der größte Irrglaube über die Bibel ist, dass es sich um ein einzelnes Buch handele“, sagt Ehrman im Gespräch mit HÖRZU WISSEN. „ Kaufst du normalerweise ein Buch, gehst du davon aus, dass ein Autor einen konsistenten Blick zum Ausdruck bringt. Aber das Neue Testament besteht aus 27 Büchern, geschrieben von verschiedenen Autoren, zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten. Es gibt sogar Geschichten, die sich zum Teil widersprechen.“
WAS IST DIE WAHRE BIBEL?
Diese Widersprüche erklären sich aus der Entstehungsgeschichte. „Viele Christen mögen denken, dass der neutestamentliche Kanon bald nach dem Tod Jesu einfach eines Tages auftauchte. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein“, sagt Ehrman. Die Schriften entstanden mehrere Jahrzehnte nach dem Tod Jesus’, viele zwischen 50 bis 90 nach Christus. Die heute bekannten vier Evangelien waren dabei nur einige unter vielen. „Es gab christliche Gemeinden, in denen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes keine Rolle spielten“, so Ehrman. „Stattdessen verbreiteten sie die Evangelien nach Philippus oder Thomas.“
Jahrhundertelang existierten unterschiedlich gefärbte Erzählungen über Jesus gleichberechtigt nebeneinander. Eine Änderung deutete sich erst im Jahr 367 an. Damals erklärte Athanasius, Bischof von Alexandria, die uns heute vertrauten 27 Bücher zu jenen, die als Heilige Schrift in seinen Gemeinden gelesen werden sollten. „Aber nicht alle stimmten Athanasius zu“, erklärt Bibel- Experte Ehrman. „Selbst in seiner eigenen Stadt Alexandria bevorzugten einige Christen andere Bücher.“
Die Diskussion, was die wahre Bibel sei, ging weiter. Es sollte bis ins 16. Jahrhundert dauern, bis die katholische Kirche ihren Kanon für die Bibel in ihrer heutigen Form endgültig festlegte. Da wurden Bibeln bereits per Buchdruck vervielfältigt. Die Erfindung von Johannes Gutenberg im Jahr 1450 war eine Revolution, vor allem für die Verbreitung der Bibel. Denn in den rund 1400 Jahren zuvor mussten die Schriften mühsam von Hand kopiert werden – Seite für Seite, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Dabei nahmen sich Kopisten immer wieder Freiheiten. Sie änderten den Text, etwa wenn sie einen Widerspruch oder auch einen Fehler im Text zu entdecken glaubten. Manche dieser Korrekturen waren aber auch ideologisch motiviert, zum Beispiel, wenn es um die Rolle der Frau ging.
"Der größte IRRGLAUBE über die Bibel ist, dass es ein einzelnes Buch sei.“
Prof. Bart D. Ehrman, Bibelforscher
WANDERPREDIGER
Jesus von Nazaret begann mit einer kleinen Schar von Anhängern
SCHLÜSSELSZENE
Die Kreuzigung Jesu wird in den vier Evangelien durchaus unterschiedlich erzählt
MEILENSTEIN
Durch die Arbeit geschulter Mönche professionalisierte sich das Kopieren von Bibeln
PASSAGEN GEÄNDERT
Die frühesten Evangelien zeugen davon, dass Frauen Jesus auf dessen Reisen begleiteten. Markus und Johannes schreiben, dass Jesus öffentlich mit Frauen debattierte. Aus den Briefen des Paulus geht hervor, dass Frauen in frühen christlichen Gemeinden eine zentrale Rolle spielten, etwa in Person der Apostelin Junias. Aber schon damals wurde dieses Thema kontrovers diskutiert. „Die Schreiber, die die Texte kopierten, waren offensichtlich in diese Debatte involviert“, sagt Bart D. Ehrman. „Passagen wurden abgeändert und den Ansichten der jeweiligen Schreiber angepasst. Dabei ging es fast in jedem Fall darum, die Bedeutung der Frauen im Christentum herunterzuspielen.“ So wurde aus dem Frauennamen Junias bei manchem kurzerhand Junia – ein Männername.
Auch im textlichen Umgang mit den Juden wurden einige Kopisten kreativ. In bekannten Schriften – wie zum Beispiel dem Codex Sinaiticus – wurde der Text im Vergleich zu früheren Versionen geändert, um die jüdische Schuld am
"Es ging darum, die Bedeutung der FRAU im Christentum herunterzuspielen.“
Prof. Bart D. Ehrmann, Bibelforscher
Tod Jesu herauszustellen. In diesen Manuskripten „überantwortete Pilatus ihn ihnen (d. h. den Juden), dass sie ihn kreuzigen“. Religionswissenschaftler Ehrman erklärt: „Es handelt sich um eine Änderung, die durch antijüdische Stimmung unter den frühen Christen motiviert war. Die Vollstreckung eines Todesurteils konnte zur Zeit Jesu in Jerusalem nur durch die römische Besatzungsmacht erfolgen, nicht durch die Juden.“ Bewusste Textänderungen wie diese dürften durchaus Einfluss auf das Verhältnis des Christentums zu Frauen und Juden gehabt haben.
Schon zeitgenössische Kopisten wussten um das Problem mutwilliger Ände-rungen. Auf einer Seite des im 4. Jahrhundert verfassten Codex Vaticanus, eine der bedeutendsten frühen Bibelschriften, findet sich eine kleine Randnotiz. Zwischen zwei Textspalten beschimpft der Schreiber auf Altgriechisch einen seiner Vorgänger, der anscheinend den ursprünglichen Text verfälscht hatte. Auf Deutsch übersetzt lautet die Botschaft: „Dummkopf und Schurke, bewahre den alten Text und ändere nichts!“
HÖRENSAGEN ALS BASIS
Aber nicht immer war Vorsatz nötig, um Texte zu verfälschen. „Die meisten Änderungen sind schlicht und einfach Folge von Fehlern“, erklärt Ehrman. „Es gab Schreibfehler, versehentliche Auslassungen oder unabsichtliches Hinzufügen. Wir dürfen nicht vergessen: Die meisten Kopisten in den frühen Jahrhunderten waren keine Profis, sondern einfache Mitglieder ihrer Gemeinden, die mehr oder weniger gut lesen und schreiben konnten.“ Eine wirkliche Professionalisierung fand erst ab dem Mittelalter statt, als vor allem geschulte Mönche die anspruchsvolle Arbeit übernahmen.
Generell gilt aber: Fehler in den Abschriften potenzierten sich über die Jahrhunderte. Es existieren keine Originalbibeltexte mehr. Es gibt nur Abschriften von Abschriften von Abschriften von Abschriften und so weiter. Und die allerersten dieser Abschriften wurden angefertigt von Menschen, die Jahrzehnte nach Jesus lebten, an einem völlig anderen Ort. Sie sprachen nicht einmal seine Sprache: Während Jesus sich auf Aramäisch verständigte, wurden die frühchristlichen Schriften des Neuen Testaments in Altgriechisch verfasst. „Dazu kommt“, so Ehrman, „dass diese Texte auf mündlichen Überlieferungen basieren, die beim Weitererzählen verändert wurden. Dinge wurden ausgeschmückt oder später ganz einfach erfunden. Was wir heute im Neuen Testament lesen, spiegelt sicher nicht die Haltung von Jesu selbst wider.“
Hätte sich das Christentum auch ohne die Eingriffe der Kopisten zur größten Religion der Welt entwickelt? Wäre ein „originalgetreueres“ Neues Testament ebenfalls zum Bestseller geworden? Zumindest dieses Bibelrätsel wird sich nie ganz lösen lassen.
MICHAEL TOKARSKI
PIONIERARBEIT
Titelblatt einer Lutherbibel aus dem Jahr 1561