... Kontinent“ (siehe Tipp Seite 42) schreibt die gebürtige New Yorkerin über ihre Erlebnisse in Wäldern auf der ganzen Welt und warnt vor dem Niedergang dieses wertvollen Lebensraums.
Vor gut 40 Jahren, als Meg Lowman begann, an der Aberdeen-Universität in Schottland Biologie zu studieren, konnte sie es nicht fassen: Warum hatten Waldforscher sich bis dahin allenfalls am Rande für Baumkronen interessiert? „Es ist etwa so, als wenn ein Arzt nur den großen Zeh untersucht, um auf die Gesundheit eines Menschen zu schließen“, sagt sie. „Die Wissenschaftler haben somit 95 Prozent ihres Sujets übersehen.“
Sie blickten allenfalls in die Krone, wenn so ein Baumriese gefällt am Boden lag.
Für Meg Lowman war schnell klar: Um den ganzen Wald zu verstehen, musste sie in seine oberste Etage vordringen.
Ein Wunder zwischen Himmel und Erde
Seitdem hat sie in 46 Ländern auf allen Kontinenten geforscht. Hauptsächlich in Australien, Kamerun, den Vereinigten Staaten von Amerika, Belize und Peru.
Ihre wichtigste Erkenntnis: Über die Hälfte aller Spezies der Welt leben in Baumkronen. Und diese scheinen den Wolken manchmal näher als der Erde:
Manche Bäume, wie etwa der Riesen-Eukalyptus in Australien, sind mehr als 70 Meter hoch. Zudem kann das Thermometer so weit oben 40 Grad anzeigen.
Keine einfachen Arbeitsbedingungen. „Anfangs habe ich noch gedacht, ich könnte die Krone mit einem Fernglas zu mir herunterholen“, sagt Dr. Meg Lowman. Die Idee musste sie schnell verwerfen – und wurde erfinderisch.
Costa Rica
Auf dem Dach des immergrünen Nebelwalds
MONTEVERDE HANGING BRIDGES
Insgesamt sechs Brücken überspannen Schluchten und Flüsse und bringen Besucher auf einer 2,5 Kilometer langen Tour in die obere Etage des Schutzgebiets Monteverde. Weil diese voller Nahrung für Tiere steckt, herrscht viel Leben. Hier lebt auch die Blattschneiderameise (siehe Fotos oben).
Samoa
Ein Weg für Sportliche und Schwindelfreie
FALEALUPO CANOPY WALKWAY
Über diese Holzstiege können Besucher des Naturschutzgebiets im Nordwesten der Insel Savai’i einen 230 Jahre alten Banyanbaum aus nächster Nähe betrachten. Ein Erlebnis, das manchen erkennen lässt, wie schützenswert der Wald ist.
Kanada
Die Pracht der großen Vielfalt
CAPILANO SUSPENSION BRIDGE PARK
Aus der Perspektive der Eichhörnchen den Wald von Vancouver entdecken: Neue und auch historische Wege machen das möglich. Im Park gibt es eine Hängebrücke aus dem Jahr 1889, die 70 Meter hoch und 130 Meter lang ist.
Als junge Doktorandin lernte sie beim lokalen Höhlenforscherclub das Seilklettern. „Höhlenforscher steigen an einem Seil in die Tiefe, ich hingegen kletterte nach oben und umschlang vorsichtig große Bäume, um nur ja keine Blätter zu beschädigen oder Tiere zu verschrecken“, erzählt Lowman. Mit einer Zwille schoss sie zunächst einen Stein mit angeknüpfter Schnur über einen Ast und hangelte sich dann in einem Klettergurt hoch bis in die Krone. Später probierte sie es auch mit Hubbühnen, Heißluftballons, Drohnen oder Baukränen.
Auf Augenhöhe mit der Vielfalt der Natur
Im Laufe der Jahre entwickelte die Pionierin der Baumkronenforschung ein geniales Projekt: die sogenannten Skywalks, Gehwege in luftiger Höhe für die Erkundung des „achten Kontinents“, wie Dr. Lowman ihren Arbeitsbereich bezeichnet. Heute gibt es weltweit Baumwipfelpfade, viele entstanden nach ihrer Idee. Besonders spektakuläre „Himmelsspaziergänge“ stellt HÖRZU WISSEN auf diesen Seiten vor. Auf vielen Wegen finden sich auch Plattformen, von denen aus größere Gruppen von Besuchern die Baumkronen untersuchen können.
Nicht nur zu wissenschaftlichen Zwecken, die Stege haben auch einen sozialen Aspekt: Sie ebnen den Weg für Ökotourismus, mit dem Einheimische Geld verdienen können statt mit der weniger umweltfreundlichen Holzwirtschaft.
„Wer einmal in ein Blätterdach gestiegen ist, wird das dringende Bedürfnis verspüren, sich für den Artenschutz zu engagieren“, sagt Dr. Lowman. „Bei meinen ersten Ausf lügen entdeckte ich Tiere, die ich mir nie hätte vorstellen können und die damals dem Rest der Welt noch völlig unbekannt waren.“ Sie staunte zum Beispiel über einen hübschen Rüsselkäfer, der mit seiner schwarzen Schnauze Blätter aussaugte, über elegante, farbenfrohe Bestäuber, die durch blühende Ranken huschten, und über Abermillionen ihrer Lieblingsobjekte: Blätter, in allen Farben und Formen. Tausende hat sie in den vier Jahrzehnten ihrer Forschung markiert, Größe und Fotosynthese-Raten bestimmt oder auch Fraßspuren von Insekten unter die Lupe genommen. Dass sie bei ihrer Arbeit auch immer wieder mit Vogelkot, juckenden Nesseln, Blutegeln oder Taranteln in Berührung kam, beeindruckte sie hingegen in keinster Weise.
In den Wipfeln enthüllt Lowman Geheimnisse, die vom Boden aus nicht einmal zu erahnen sind: Raupen operieren in Gangs, Vögel schnappen sich diese arglosen Larven, als bedienten sie sich an einer Salatbar, und plötzliche Regengüsse treiben alle diese wuselnden Geschöpfe auf der Suche nach Unterschlupf unter Blätter oder in Rindenspalten.
Lowmans Arbeit hat einen Wert für uns alle. Durch ihre Erkenntnisse können Bäume besser geschützt werden. Als sie am Anfang ihrer Karriere als „Arbornautin“ stand, verwendete noch niemand das Wort „Klimawandel“, und keiner ahnte, dass Bäume durch etwas anderes gefährdet sein könnten als durch Abholzung, Brandrodung oder gelegentlichen Insektenbefall. Nur vier Jahrzehnte später ist die Bedrohung der Wälder durch extreme Hitze, Dürre, Brände und Schädlinge wegen der global steigenden Temperaturen dramatisch.
Die Hälfte aller Arten auf der Erde lebt in Baumkronen.“
MEG LOWMAN, Biologin & Arbornautin
Australien
Eukalyptus, so weit das Auge reicht
VALLEY OF THE GIANTS TREE TOP WALK
Nichts für Menschen mit Höhenangst: In 40 Metern fühlt es sich an, als würde man durch die Wipfel der Tingle Trees wandern. Die Eukalyptus-Art ist in diesem Park im Südwesten Australiens heimisch, wie auch Karri- und Jarrah-Bäume.
Bayern
Hochgefühl in Neuschönau
BAUMWIPFELPFAD BAYERISCHER WALD
Er gehört zu den längsten Skywalks der Welt: der bis zu 25 Meter hohe und 1300
Meter lange Rundweg im Nationalpark Bayerischer Wald. Eröffnet wurde der Pfad im Jahr 2009, der Architekt ist Josef Stöger.
Rügen
Im Reich der Seeadler
BAUMWIPFELPFAD IM NATURERBE ZENTRUM
In Prora schlängelt sich der Weg stufenlos in die Höhe. Der Aussichtsturm, der sogenannte Adlerhorst, hat einen Durchmesser von 28 Metern. Mit Glück können Besucher von dort Seeadler beobachten.
„Die Gesundheit unseres Planeten hängt direkt mit dem Wald zusammen“, sagt Dr. Lowman. Sein Kronendach produziert Sauerstoff, filtert Regenwasser, wandelt Sonnenlicht in Zucker um, reinigt die Luft, indem es Kohlendioxid absorbiert, und bietet der außerordentlichen genetischen Vielfalt aller erdbewohnenden Tiere Unterschlupf. „Die Ökosystem-Dienstleistungen von Bäumen sind Milliarden Dollar wert, wenn wir sie einfach nur wachsen lassen.“
Die grüne Arche ist in größter Gefahr
„Damit der Wald gut funktioniert, müssen wir ihn vor der Zerstörung durch den Menschen schützen“, sagt die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin. „In den gut 60 Jahren meines Lebens hat etwa die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds einen Zenit überschritten. Unwahrscheinlich, dass er sich regeneriert.“
Länder wie Madagaskar, Äthiopien oder die Philippinen besitzen fast keine Urwälder mehr, aus denen Samen für künftige Bestände gewonnen werden können. Und noch bestehende Urwaldfragmente von Kalifornien über Indonesien bis Brasilien sind durch Brände, Dürre, Straßenbau und Abholzung bereits sehr stark bedroht. „Wir müssen uns noch mehr beeilen, um die Geheimnisse der Baumwipfel zu entschlüsseln, bevor sie verschwinden“, fordert Dr. Margaret Lowman. „Es ist höchste Zeit:
Wir müssen eine Möglichkeit finden, die übrigen dieser einzigartigen grünen Archen zu bewahren.“
MIRJA HALBIG