... Anpassung des Menschen an Gefahrensituationen. Allerdings ist der Kampf-oder-Flucht-Modus für uns nur dann eine gute Sache, wenn das Alarmsignal aus dem Gehirn und der damit einhergehende Adrenalinstoß aus der Nebennierenrinde, der den Körper dazu befähigt, Gefahrensituationen adäquat und schnellstmöglich zu begegnen, nur über eine sehr kurze Zeitspanne anhält. Wenn man sich vor Augen führt, mit welchen Reaktionen der Körper auf eine Gefahr reagiert, dann weiß man auch, wie gesundheitsschädigend es sein kann, wenn dieser Modus zur Bewältigung einer akuten Gefahrensituation länger anhält: Ausgeschüttet wird ein Hormoncocktail aus Cortisol und Adrenalin, die Atem-und Herzfrequenz beschleunigt sich, der Blutdruck steigt ebenso wie der Blutzucker, die Muskeln spannen sich an, die Milchsäure vermehrt sich, die Immunabwehr wird schwächer. Natürlich sind jene Menschen, die den Krieg vor der eigenen Haustür erleben, deutlich stärker von den Folgen eines Lebens im Kampfoder-Flucht-Modus betroffen als wir, die wir die Bilder von Kampf, Zerstörung und Flucht nur vom Fernsehschirm kennen. Dennoch hinterlassen die ewig negativen Nachrichten und die Bilderfluten auch bei uns negative Gefühle wie Betroffenheit, Schmerz, Angst, Ohnmacht und Zorn. „Ganz besonders dann, wenn nach zwei Jahren Pandemie bei vielen von uns der Akku einfach leerer ist als sonst“, bilanziert Felicitas Heyne. Mit ihren Freundinnen diskutiert sie die andauernden Katastrophen kaum: „Ich sehe keinen großen Sinn darin, die eigenen negativen Gefühle noch dadurch zu verstärken, dass ich sie mit anderen, ebenso emotionalen Menschen teile.“
Von Gefühlen zum Handeln motivieren lassen
Was können wir tun, wenn Krisen an uns herangetragen werden, zu deren Bewältigung wir kaum etwas beitragen können? Zunächst einmal sollten wir uns zur medizinischen bewusst machen, dass all unsere Gefühle – Angst, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit, Wut – sein dürfen, weil sie eine wichtige Funktion haben: „Ein Gefühl ist immer auch ein Signal, eine Art Bedürfnisanzeiger und gleichzeitig eine Aufforderung zum Handeln“, sagt die Psychologin Bianca Rodenstein. Sie ist Mitglied im Netzwerk Psychologists for Future und berät in dieser Funktion Menschen, die im Zusammenhang mit der Klimakrise psychisch belastende Erfahrungen machen.
Die 40-Jährige weiß: „Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, mit unangenehmen Gefühlen gut umzugehen. Das schützt auch vor übermäßigen Ängsten oder Ohnmacht. Damit die Krisen nicht einfach unbegrenzt weiterlaufen, ist es aber zunächst wichtig und sinnvoll, seine Gefühle und deren Bedeutung erst einmal zur Kenntnis zu nehmen und sich von ihnen in einem zweiten Schritt zum Handeln motivieren zu lassen.“
Das sieht Andrea Strüver ganz ähnlich. Die 57-Jährige lebt in einem kleinen Ort im Sauerland. Als ehemals alleinerziehende Mutter in oft unsicheren finanziellen Verhältnissen sind ihr persönliche Krisensituationen vertraut und eine globale Krise hat sie jedes Mal vor Augen, wenn sie aus ihrem Wohnzimmerfenster schaut: Dürresommer und Borkenkäfer haben die Bäume in der waldreichen Region stark dezimiert. „Der Anblick der kahlen Hänge ist erschütternd“, sagt die Naturfreundin. Mehr noch als die sichtbaren Zeichen des Klimawandels vor ihrer Haustür haben Andrea Strüver die Bilder der Zerstörungen durch die Wasserfluten im Ahrtal mitgenommen. Und jetzt noch der Ukraine-Krieg.
Die Fernsehbilder aus dem zerstörten Mariupol und die Leichen auf den Straßen von Butscha haben der 57-Jährigen Tränen in die Augen getrieben.
Die Gefühle, mit denen sie auf die Bilder des Grauens schaut, sind stark, aber unterkriegen lässt sie sich von ihnen nicht. „Das war nicht immer so in meinem Leben, aber ich habe dazugelernt. Ich habe erkannt, dass mich Krisen und die damit verbundenen Gefühle nur dann lähmen, wenn ich sie nicht in positive Handlungen transformiere“, sagt sie und zeigt auf ein abstraktes Gemälde in den blau-gelben Farben der ukrainischen Flagge. „Dieses Bild habe ich schon vor 20 Jahren gemalt – wahrscheinlich für genau diese Zeit. Vor wenigen Wochen habe ich das Gemälde versteigert und den Erlös dafür verwendet, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.“ (Wenn auch Sie helfen möchten, finden Sie unter biomagazin.de Ideen und Informationen.)
Ins Handeln kommen, helfen, aktiv sein. Das ist auch für Felicitas Heyne ein Fixpunkt in Krisenzeiten. Während der Corona-Pandemie hat sie ein ganz besonderes Projekt entwickelt: Mit einem Hörbuch für Frauen und Mädchen in den Ländern des Südens verbreitet sie medizinisches Know-how mittels eigens dafür entwickelter solarbetriebener Abspielgeräte.
Die Erklärstücke für Frauen und Mädchen, die kaum Zugang zur gesundheitlichen Aufklärung haben, sind mittlerweile in 87 Sprachen übersetzt worden. „Gerade in Zeiten, in denen ich mit Geschehnissen konfrontiert bin, auf die ich als einzelne Person überhaupt keinen Einfluss nehmen kann, hilft es mir enorm, Dinge auf den Weg zu bringen, auf die ich Einfluss habe. Mit meinem Hilfswerk habe ich 2.392 Frauen in Uganda über die Vorteile einer Impfung aufgeklärt. Von diesen Frauen ließen sich im Anschluss 212 Frauen direkt gegen Covid-19 impfen und kommen jetzt hoffentlich ohne größere Beeinträchtigungen durch die Pandemie.“
Momente der Selbstfürsorge
Fürsorge für andere – eine gute Maßnahme, wenn man sich in Krisenzeiten seelisch und geistig gesund halten will. Ebenso wichtig wie Fürsorge für andere ist allerdings Selbstfürsorge. Andrea Strüver tankt Kraft und Widerstandsfähigkeit in der Natur. Mit Hunden ihrer Bekannten geht sie regelmäßig wandern, inmitten von grünem Blattwerk und leuchtenden Blüten schaltet sie ab von ihren kreisenden Gedanken. Hier kommt Andrea Strüver zu innerer Ruhe und zurück zu sich selbst. Dasselbe gelingt ihr, wenn sie vor einer leeren Leinwand steht und dann mit Farbe und Pinsel ihrer Intuition freien Lauf lässt.
Felicitas Heyne versenkt sich in diesen Zeiten gern in die Gartenarbeit, geht ganz bewusst zum Tanzen oder trifft sich nach langen Pandemiemonaten wieder mit Freundinnen. „Allerdings achte ich sehr darauf, die derzeitigen Krisen in unseren Gesprächen nur am Rande zu streifen. Gerade wenn die Zeiten belastend sind, ist es wichtig, gemeinsam zu lachen und kleine Momente der Freude zu erleben. Damit bleibe ich für Stunden ganz bewusst bei mir und blende die unheilvolle Außenwelt aus. Denn mein eigenes Leben ist ja nicht dadurch wertloser geworden, dass die Welt da draußen gerade verrückt spielt und viele Menschen durch leidvolle Erfahrungen gehen müssen.“
Ein sehr hilfreicher Weg, findet Bianca Rodenstein und verweist gleichzeitig auf die Tatsache, dass allzu viele Menschen – ganz besonders ältere Frauen – Selbstfürsorge nicht gelernt haben und deshalb auch nur schwer realisieren können. „Was brauche ich? Was tut mir gut – gerade in diesen Zeiten? Diese Fragen sollten wir uns alle viel häufiger stellen. Denn wer nicht gut für sich selbst sorgt, kann dauerhaft auch nicht für andere sorgen oder sich engagieren. Wenn wir uns selbst in diesen Zeiten nicht wichtig genug nehmen, dann fehlt uns die Kraft, dann brennen wir aus – und damit ist niemandem geholfen“, erklärt die Psychologin.
Digital Detox – wichtiger denn je
Felicitas Heyne kennt noch einen anderen Weg, sich die innere Balance und eine positive Grundausrichtung zu bewahren: „Je schlimmer die Geschichten, die mir die täglichen Nachrichten vermitteln, desto wichtiger ist es, mir selbst positive Geschichten zu erzählen! Sich immer wieder bewusst zu machen, wie reich mein Leben dennoch ist – schon das ist eine positive Geschichte“, sagt die Buchautorin und fügt an: „Mit meinen inneren Monologen bilde ich sozusagen ein wirksames Gegengewicht zu den Schreckensmeldungen in den Medien.“ Letztere konsumiere sie ohnehin nur sehr bewusst und nur in kleinen Dosen. Newsticker schaltet sie erst gar nicht ein.
Bianca Rodenstein hält diese Strategie für angemessen und verweist auf eine besondere Eigenart unseres Gehirns: Unser Unbewusstes bezieht nicht zwangsläufig mit ein, dass sich die bewegten Bilder auf dem Fernsehschirm nicht in unserer unmittelbaren Umgebung abspielen und für uns deshalb auch keine direkte Gefahr besteht. Zudem drohe, sagt sie, durch einen zu hohen Konsum negativer Nachrichten entweder eine Daueraktivierung des Kampfoder-Flucht-Modus oder ein emotionales Abstumpfen.
Schon aus diesem Grund sei es wichtig, sich zwar regelmäßig, aber eingeschränkt bei seriösen Medien zu informieren und laufende Bilder nur sehr dosiert zu konsumieren. Denn eines sei klar: „Auch wenn wir jede Fernsehsendung ansehen, jeden Zeitungsartikel lesen und uns jedem einzelnen der schrecklichen Bilder von Krieg, Zerstörung und Klimakatastrophen aussetzen: Wir müssen akzeptieren, dass die weltweiten Krisen viel zu komplex sind, um sie als Einzelner vollständig zu überblicken, und dass es keine schnellen und einfachen Lösungen gibt.
Diese Spannung auszuhalten, gelingt umso besser, wenn wir uns regelmäßig auf uns selbst besinnen, unsere Gefühle in tatkräftige Hilfe einfließen lassen – und jederzeit gut für uns sorgen.“