... Akkorde auf der Gitarre hat er sich nebenbei abgeguckt, aus der „Bravo“ des drei Jahre älteren Bruders. Als Stefan zwölf Jahre alt war, gründeten die beiden ihre erste Schülerband „The Shapes“. „Unsere Setlist war grauenvoll“, erinnert sich der Vater von zwei erwachsenen Töchtern mit einem Lächeln an die ersten Songs und Cover-Nummern. Aber er erinnert sich eben auch daran, was die Auftritte in ihm auslösten: Dieses positive Gefühl, auf der Bühne sein Innerstes zu zeigen und sich dabei selbst besser kennenzulernen. Genau diese Leidenschaft ist unverändert da, bei jedem seiner vielen Konzerte.
Der Gute-Laune-Kick aus dem Radio
Beim Autofahren, beim Kochen, beim Joggen: Die Deutschen lieben es, Musik zu hören. Das bestätigt eine Studie der Musikindustrie, in der 2021 das weltweite Hörverhalten in 21 Ländern untersucht wurde. Danach lauschen die Deutschen im Schnitt über 19 Stunden in der Woche Musik – das entspricht rund 55 Songs pro Tag. 85 Prozent der Befragten gaben bei der Umfrage an, dass Musikhören ihr Wohlbefinden steigert. Und bei knapp 75 Prozent der Studienteilnehmer in Deutschland half die Musik während der Corona-Pandemie, ein Gefühl von Normalität zu vermitteln.
Musik geht direkt ins Herz, in die Beine und in den Kopf. Das spüren wir nicht nur, das beweisen auch wissenschaftliche Untersuchungen. Ein Team der Universität im finnischen Jyväskylä spielte für eine Studie Freiwilligen verschiedene Stücke vor, darunter Vivaldi, Miles Davis, argentinischen Tango und die Beatles. Bei allen Musikarten wurde das limbische System im Gehirn aktiviert, das für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, sowie der motorische Kortex, der Bewegungen steuert. Bei Liedern und Popsongs erhöhte sich zusätzlich die Aktivität der rechten Gehirnhälfte – der Teil, der für unsere Intuition und die Kreativität wichtig ist.
Kein Wunder, dass 14,3 Millionen Deutschen Musikhören nicht genug ist: Sie musizieren in ihrer Freizeit oder singen in einem Chor, meldet der Bundesmusikverband Chor & Orchester. Dass sich mittlerweile immer mehr ältere Musikbegeisterte in der Musikschule, bei einem Orchester oder Chor anmelden, wundert Theo Hartogh nicht. Der Professor für Musikpädagogik an der Universität Vechta weiß: „Die Altersgruppe 60 plus profitiert besonders vom Gemeinschaftsgefühl in der Musik.“ Beim Sprechen zum Beispiel könne immer nur einer reden, der andere müsse sich zurücknehmen und zuhören. „Aber sobald Musik ins Spiel kommt, erleben wir alles gleichzeitig: die Harmonie, den Rhythmus und die Gefühle, das macht es so intensiv“, erklärt der Musikpädagoge, der erst kürzlich selbst so einen Gänsehaut-Moment mit Musik erlebt hat. Auf einem Brunch zu einem 60. Geburtstag wurden alle Gäste der Feier gebeten aufzustehen und in Gruppen für einen spontanen Choral eingeteilt. „Plötzlich war der ganze Raum erfüllt von 50 Stimmen und einem gemeinsamen Lied. Dieses Wir-Gefühl hätten wir mit einem Tag Small Talk nicht hinbekommen.“
„Musik hat mich schon mehr als einmal im Leben durch dunkle Momente gerettet und getragen
Stefan Zirkel (54), Bandleader aus dem badischen Wiesloch
Gefeierte Auftritte auf der Bühne
Mit seiner Band SO! spielt Stefan Zirkel nicht nur selbst geschriebene Lieder, sondern interpretiert auch Klassiker der letzten Jahrzehnte neu
Gute Musik ist wie ein fröhlicher Barkeeper, der uns einen Cocktail aus Glückshormonen serviert: Adrenalin, Dopamin, Serotonin und Endorphin fluten unseren Körper. Stress fällt ab, das Herz schlägt ruhiger, die Atmung geht tiefer. Ein vertrautes, warmes Gefühl im Bauch entsteht.
Das Instrument ist wie ein guter Freund
Das kennt auch Judith Bauer aus Weiden in der Oberpfalz, und zwar schon seit der Schulzeit. „Als Kind war mein Klavier mein bester Freund“, erinnert sich die heute 45-Jährige. Jeden Tag nach dem Unterricht setzte sie sich an die Tasten, um mit Beethoven und Brahms Ärger, Wut, den ersten Liebeskummer oder Langeweile einfach wegzuspielen. Kurz nach ihrem zwölften Geburtstag kam ein zweiter guter Freund dazu: das Cello. „Beim Cellospielen nimmt man das Instrument in die Arme, spürt bei jedem Bogenstrich die Vibration und die Schwingung des Holzes. Ich empfinde das als heilsam“, erklärt Judith Bauer, die sich ein Leben oder einen Beruf ohne Musik nicht vorstellen kann. Statt einer Laufbahn als klassische Pianistin wurde es dann allerdings eine handwerkliche Ausbildung zur Geigenbauerin.
„Eine Geige zu bauen ist wie ein Wesen zu erschaffen mit eigenem Charakter
Judith Bauer (45), Geigenbauerin aus Weiden in der Oberpfalz
In ihrem Atelier mit Werkstatt im bayerischen Weiden restauriert und repariert die alleinerziehende zweifache Mutter Violinen, Bratschen, Celli und Kontrabässe, rückt hier einen Steg gerade, macht dort einen Instrumentenhals graziler. Fast genauso kostbar wie die Arbeit mit Holz, Lack und Klang findet sie den täglichen Austausch mit Gleichgesinnten. Sie bestärkt Eltern darin, ihre Kinder das richtige Instrument für sich selbst auswählen zu lassen, und unterstützt Profimusiker auf der Suche nach ihrem individuellen Klang. Drei Monate dauert der Prozess bei Auftragsarbeiten, bis Judith Bauer aus einem Stück Holz eine fertige Geige gebaut hat. „Wie ein neues Wesen, das man erschafft, mit eigenem Charakter und Sound“, schwärmt die 45-Jährige, die nach ein paar Jahren Pause seit Kurzem auch wieder selbst Cellounterricht nimmt. Klassische Musik ist bis heute ihr Steckenpferd. In verschiedenen Ensembles, mal am Klavier, mal am Cello, wagt sich Judith Bauer aber auch an neue Stilrichtungen – von argentinischem Tango bis zu modernen Komponisten wie dem Tübinger David Orlowsky.
Musizieren ist ein Jungbrunnen
Neugierig bleiben und immer wieder an den eigenen Fertigkeiten feilen: Das macht Musizieren zum Jungbrunnen und zum idealen Gedächtnistraining. „Da muss man sich nur Udo Lindenberg, Tina Turner oder Mick Jagger anschauen“, sagt Musikpädagoge Theo Hartogh mit einem Lächeln. „Die haben vermutlich nicht überproportional gesund gelebt, sind aber ein Leben lang aktiv und kreativ geblieben, das hält unglaublich fit.“ Egal, ob wir uns wie der Professor zum Entspannen ans Klavier setzen, zu den Platten von früher durchs Wohnzimmer schwofen oder Luftgitarre spielen – immer steigt das, was Psychologen „subjektives Gesundheitsempfinden“ nennen. Wir vergessen, dass wir eigentlich Kopfschmerzen haben oder das Knie zwickt – und fühlen uns einfach gut.
Aus Holz wird Musik
Drei Monate etwa dauert es, bis Judith Bauer ein Instrument gebaut hat, das exakt zu den Wünschen und Vorstellungen ihrer Kunden passt
Ein Energie-Kick, den Dagmar Hosp aus Bonndorf im Schwarzwald jeden Dienstagabend spürt: „Nach einem ausgefüllten Arbeitstag krieche ich manchmal auf allen vieren zu unserer Chorprobe“, gesteht die Physiotherapeutin, „spätestens nach den ersten Atemübungen und dem Einsingen bin ich hellwach und fokussiert. In meinem Kopf ist nur noch Platz für die Musik und diese fröhliche Truppe, das ist wunderbar befreiend.“
Während sie in ihrer eigenen Physiopraxis mit 30 Angestellten auch die beruhigende Kraft der Musik bei Entspannungskursen für die Patienten nutzt, war der Einstieg in den Chor „Let’s Fetz“ vor acht Jahren eher ein Zufallstreffer. Nachdem Dagmar Hosp nach vielen Jahren wieder in ihre Heimatstadt Bonndorf zurückkehrte, nahm eine Freundin sie mit zum Chor. Dort fand die heute 59-Jährige nicht nur einen neuen Bekanntenkreis, sondern auch eine neue Herzensaufgabe. Als der ehemalige Chorleiter kurz vor einem Auftritt bei einer Hochzeit das Handtuch warf, sprang Dagmar Hosp beherzt ein – und blieb Chorleiterin. Auch als die 25 Sängerinnen und Sänger sich während der Corona-Pandemie nur online treffen durften und die ersten Proben nach langer Pause ziemlich holprig verliefen. Im Herbst 2022 wurden sie für ihren gefeierten Auftritt beim Jubiläumskonzert 175 Jahre Gesangsverein Bonndorf mit viel Applaus belohnt – und mit dem Gefühl, gemeinsam mit der Musik alles zu schaffen.
„Egal wie erschöpft ich bin: Spätestens nach dem Einsingen bin ich wieder hellwach und fokussiert
Dagmar Hosp (59), Leiterin des Chores „Let’s Fetz“ aus Bonndorf
Der Musikforscher und Buchautor Professor Stefan Kölsch von der Universität Bergen in Norwegen nennt diese ganz besondere Stärke von Musik „Medi Working“, also eine Art Musik-Meditation bei unseren ganz alltäglichen Aufgaben. Der Effekt: Wir vergessen Alltagssorgen und sind ganz im Hier und Jetzt. Dafür muss man nicht mal selbst musizieren, sondern kann einfach beim Bügeln das Radio laufen lassen oder im Takt des Lieblingssongs Gemüse fürs Abendessen schnippeln, erklärt Psychologe Stefan Kölsch. „Sobald wir Melodien mit Bewegungen verknüpfen, stoppen wir die typischen Gedanken- und Grübelmuster und konzentrieren uns auf den Moment.“
Musik in der Therapie
Die moderne Medizin setzt die Kraft der Musik mittlerweile gezielt ein, um Menschen in allen Bereichen zu unterstützen. Manche Patienten lernen zum Beispiel nach einem Schlaganfall mit ihrem Therapeuten am Klavier, ihre Bewegungen besser zu koordinieren, und Parkinson-Betroffenen kann der Rhythmus eines Musikstückes beim Laufen helfen. „Demenzkranke, die vieles aus ihrem Leben bereits vergessen haben, ihre Familie, ihr Zuhause, ihren Beruf, erinnern sich oft an die Musik oder Lieder ihrer Kindheit“, erklärt Professor Theo Hartogh. Singen oder musizieren kann dann viel mehr sein als ein kurzer glücklicher Moment, es stiftet Identität und verbindet Menschen mit ihrem emotionalen Selbst, es mindert Aggressionen und gibt ihnen Halt.
Jede Woche Chorprobe
Ob Pop, Rock, Jazz oder Gospel: Chorleiterin Dagmar Hosp und die Sängerinnen und Sänger von „Let’s Fetz“ lieben Musik
„Musik hat mich schon mehr als einmal im Leben durch dunkle Momente gerettet und getragen“, bringt es Bandleader Stefan Zirkel aus Wiesloch auf den Punkt. Nach heftigen Diensten in der Notfallambulanz zum Beispiel. Oder nach dem frühen Tod seines Bruders, bei der eigenen Krebserkrankung vor einem Jahr oder wenn er sich um seine älter werdenden Eltern Sorgen macht. „Was auch immer passiert: Wenn ich meine Gitarre in die Hand nehme und singe, kann ich durchatmen, mich sammeln und neue Kraft finden.“
Kristina Junker