... wurde er auf dem Weg zur Baustelle von einer Straßenbahn erfasst und erlag seinen Verletzungen. Seitdem arbeiten seine Nachfolger nach seinen Plänen und Aufzeichnungen weiter an dem unvollendeten Prachtbau. Heute gilt die Sagrada Família als die wohl bekannteste Baustelle der Welt. Dennoch ist die Kirche Wahrzeichen Barcelonas und lockt jährlich bis zu fünf Millionen Besucher an. Papst Benedikt XVI. weihte sie und erklärte sie 2010 zur Basilika, also zu einer im katholischen Sinn bedeutungsvollen Kirche. Das ist sie schon durch ihre imposante Erscheinung mit den 18 Türmen und den reich verzierten Fassaden, die die Geschichte Jesu erzählen. „Die Sagrada Família ist ein außergewöhnliches Bauwerk“, sagt Kunsthistoriker und Gaudí-Biograf van Hensbergen: „Gaudí hatte die seltene Gabe, die Grenzen des Machbaren zu dehnen: sowohl technologisch als auch geschmacklich.“
Antoni Gaudí wollte ganz hoch hinaus
Das imposante Bauwerk sollte zu Ehren Gottes entstehen. Nach seiner Vollendung wird der letzte Turm 172,5 Meter hoch sein – und damit der höchste Kirchturm der Welt. Klingt nach Größenwahn. Aber kein Turm überragt die umliegenden Berge. Barce-lonas Hausberg Montjuïc soll Gaudí tatsächlich als Grenzmarke gedient haben. Sein Ziel war, „nichts zu schaffen, das höher sei als das Werk Gottes“. Experte von Hensbergen resümiert: „Gaudí wollte architektonisch ganz hoch hinaus. Das zeigt sich allein schon in der angestrebten Höhe des Bauwerks. Aber sie ist ein paar Meter niedriger als der Montjuïc – was die Demut im Angesicht Gottes zeigen soll.“
DIE SAGR A DA FAMÍLIA IN BARCELONA WIRD EINMAL DAS HÖCHSTE RELIGIÖSE GEBÄUDE EUROPAS SEIN
Sühnetempel der Heiligen Familie
Diese Haltung entsprach ganz der Intention des realen Auftraggebers: 1881 wollte der fromme Buchhändler Josep Bocabella, Vorsitzender der Heiligen Bruderschaft, dem vermeintlichen sittlichen Verfall der Zeit ein Gotteshaus entgegensetzen. Sein vollständiger Titel „Temple Expiatori de la Sagrada Família“, übersetzt „Sühnetempel der Heiligen Familie“. Der Bau sollte durch Spenden finanziert werden.
Bocabella beauftragte den Architekten Francisco de Paula del Villar y Lozano mit der göttlichen Mission, 1882 begannen die Arbeiten, doch nach wenigen Monaten war Bocabella unzufrieden mit den wenig inspirierten Entwürfen. Gaudí übernahm den Auftrag. Anders als sein Vorgänger sprühte der damals 30-Jährige vor Ideen und war fähig, auf unkonventionelle Art unterschiedliche Stile zu verschmelzen. Gaudí verband naturalistische, modernistische und orientalische Elemente.
„In den 1870er-Jahren kam in ganz Europa ein neuer Stil auf, der Jugendstil, auch Art nouveau genannt“, erklärt Experte Gijs van Hensbergen. „In Katalonien gab es eine sehr spezifische Ausprägung davon: den Modernisme. Einige der großen Architekten der Zeit arbeiteten in dem Stil. Aber Gaudí baute Dinge, die einzigartig waren. Das unterschied ihn von den anderen Architekten seiner Zeit.“
WENN DIE SAGRADA FAMÍLIA FERTIGGESTELLT IST, WIRD DIE BAUZEIT LÄNGER GEDAUERT HABEN ALS DIE DER PYRAMIDEN IN ÄGYPTEN
Sein ganzes Leben lang ließ Gaudí sich von den Formen der Natur inspirieren. Die Umrisse des Montserrat-Gebirges waren für ihn Vorlage zur besonderen Silhouette der Sagrada Família: Seine Kirche wirkt wie ein Bergmassiv. „Der Hauptturm ist von vier kleineren Türmen umgeben, die zusammen eine Art Wendeltreppe in den Himmel bilden“, so van Hensbergen.
Im eindrucksvollen Innenraum der Basilika wird der Blick der Besucher ebenfalls in einen „Kirchenhimmel“ gelenkt. Wie kräftige Baumstämme wachsen Säulen empor, um sich oben in eine Art Geäst zu verzweigen. Getragen von diesem Säulenwald, beginnt das Hauptschiff in 45 Metern Höhe sein Gewölbe zu entfalten, überspannt in 60 Metern dann das Querschiff und schwingt sich zu einer maximalen Höhe von 75 Metern auf. Ein architektonisches Wunderwerk. Außen beeindrucken die reich verzierten Fassaden. Die Geburtsfassade wurde noch von Gaudí selbst fertiggestellt und gehört seit 2005 zum Weltkulturerbe der Unesco. Sie erzählt von der Geburt, Kindheit und Jugend Jesu.
Auch Paris würdigt den Baumeister
Die Entwürfe zur Passionsfassade, die Jesu Leidensgeschichte vom letzten Abendmahl bis zu seinem Tod zeigt, stammen noch von Gaudí, die Umsetzung aber übernahm der Bildhauer Josep Subirachs. Seine expressionistischen Skulpturen unterscheiden sich im Stil stark von jenen Gaudís. Da dieser sein Bauwerk als Langzeitprojekt angelegt hatte, erteilte er seinen Nachfolgern jedoch ausdrücklich die Erlaubnis zur freien Gestaltung. Das Musée d’Orsay in Paris widmet dem eigenwilligen Meister noch bis zum 17. Juli 2022 die Ausstellung „Gaudí“.
Wann sein Lebenswerk vollendet sein wird, bleibt ungewiss. Durch Spenden und Eintrittsgelder stehen dafür jährlich rund 22 Millionen Euro zur Verfügung. Wegen der Corona-Einschränkungen waren es im vergangenen Jahr nur 17 Millionen. Aber nach 140 Jahren Bauzeit kommt es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nun wohl auch nicht mehr an.
THOMAS KUNZE