... stützen sich Firmen hierzulande vor allem auf eine unternehmensinterne Kontrolle und eine starke Hierarchie. Dieser Fokus behindert veränderungsbereite Führungskräfte bei ihrem Vorhaben, agile Arbeitsweisen und die erforderliche Haltung im Unternehmen zu verankern. Leider hat die Corona-induzierte Flexibilität der Agilität noch nicht den gewünschten Schub gegeben. Gerade in Skandinavien ist dies häufig anders: Flache Hierarchien, schnelle Entscheidungswege ohne unnötige Bürokratie und bewusst schlanker gehaltene interne Kontrollsysteme fördern die Entwicklung.
Ganzheitliche Konzepte fehlen
Zwar gibt es in vielen Unternehmen Initiativen, ausgewählte Bereiche agiler zu gestalten. Doch häufig bleibt es bei Einzelinitiativen für wenige isolierte Teile. Das Konzept findet keine Nachahmer über die gesamte Struktur hinweg. So wird verhindert, dass sich agile Methoden ganzheitlich auf Geschäftsprozesse übertragen lassen.
Eine bestimmte Einheit mag zwar Fortschritte machen und effizienter arbeiten, die gesamte Arbeitssystematik des Unternehmens ändert sich dadurch jedoch nicht. Dabei reicht es bei weitem nicht, agile Termini wie „Sprints“ und „Backlogs“ sowie Zeremonien (zum Beispiel Stand-ups und Demos) in den unternehmerischen Alltag einzubauen.
Die aktuelle Erhebung von McKinsey offenbart das Ausmaß des deutschen Rückstands: In einem von vier Unternehmen gibt es keine Pläne, das Unternehmensmodell zu transformieren. Diejenigen Sektoren, die bereits eine ganzheitliche Transformation hin zu mehr Agilität angestoßen haben, sind in erster Linie die Finanz- und die Telekommunikationsbranche.
Doch was droht Unternehmen, die sich dem Wandel verweigern oder denen die Umsetzung nicht gelingt? In erster Linie riskieren sie, von zunehmender Komplexität erdrückt zu werden. Die Konsequenzen der Coronakrise, die immer weiter fortschreitende Digitalisierung, neue Herausforderungen in globalen Lieferketten oder die in vielen Bereichen zunehmende Geschwindigkeit – oft von Kunden eingefordert – sind nur einige der aktuellen Beispiele.
Schon jetzt haben viele Unternehmen Schwierigkeiten, sich optimal zu organisieren. Die Zeiträume, bis Produkte marktreif werden, verlängern sich. Nicht wenige Firmen können bei aktuellen Trends nicht mehr mit der nötigen Geschwindigkeit mitgehen, immer häufiger laufen ihnen Startups mit maßgeschneiderten Produkten den Rang ab. Der langfristig wahrscheinlich gravierendste Effekt: Unternehmen, die nicht wirklich agil denken und handeln, können die erforderlichen Talente nicht anziehen und halten.
Schnell reagieren und stabil bleiben
Agilität ist die Fähigkeit, sich schnell an Veränderungen anzupassen und dabei ein stabiles, effizientes und standardisiertes Geschäftsmodell als starkes Rückgrat zu haben. Diese Kombination bietet der Unternehmensorganisation klare und gewinnbringende Vorteile: Startups können typischerweise schnell auf Veränderungen reagieren, ihnen fehlt aber die stabile Basis. Unternehmen, die diese zwar haben, aber nur sehr lang- sam auf Veränderungen reagieren können, sind häufig in ihrer eigenen Bürokratie gefangen. Nur Unternehmen, die in beiden Variablen auftrumpfen, sind wirklich agil. Gerade im Technologiebereich muss diese Maxime gelten: Dem immer rasanteren technologischen Wandel, der nahezu exponentiell steigenden Anzahl insbesondere von cloudbasierten Services und den gleichzeitig zunehmenden Herausforderungen in puncto Cyber-Sicherheit müssen Firmen durch agiles Denken und Handeln begegnen.
Statt lange laufender Programme, vermeintlicher Top-down-Kontrolle und vielfältiger Übergabepunkte müssen die tatsächlich kompetenten Teams im Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen und Agilität zu ihrem Kernprinzip machen.
Agilität: Das Top-Team in der Pflicht
Auch wenn einige Unternehmenslenker das Thema Agilität noch als Wortblase abtun, sind auch positive Beispiele erkennbar: Insbesondere die zunehmende Digitalisierung und Elektrifizierung der Automobil- und Zuliefererbranche hat eine breite Diskussion über neue Arbeitsmethoden ausgelöst. Die Firmenchefs der deutschen OEMs und Zulieferer haben erkannt, dass sich nicht mehr alles zentral organisieren und kontrollieren lässt. Aber wie können agile Arbeitsweisen möglichst reibungsfrei implementiert werden?
Grundsätzlich gilt, dass nicht nur die CIOs, sondern das gesamte Topmanagement die Bedeutung und Funktionsweise von agilen Arbeitsmethoden verstehen und unterstützen muss. Entscheider sollten genügend Zeit aufbringen, um das Thema Agilität selbst zu durchdringen und die Funktionsweise sowie die Umsetzung im eigenen Betrieb zu erörtern und zu planen.
Bei der Evaluation sollten vor allem diese Fragen im Mittelpunkt stehen: Was soll mit Agilität erreicht werden und wie kann Agilität dazu beitragen, die Strategie umzusetzen? Eine solche Vorlaufzeit kann je nach Entwicklungsstand durchaus sinnvoll sein. Grundsätzlich ist es wesentlich effizienter, sich ein ganzheitliches Konzept für die gesamte Organisation zu überlegen, statt Agilität punktuell als Dauertest laufen zu lassen. So können Unternehmen agile Methoden in die bekannten Prozesse einbringen und die gesamte Organisation effizienter gestalten.
Mit dem beschriebenen Ansatz konnte ein Unternehmen beispielsweise eine klassische „Demand-Supply“- IT mit hohem Anteil externer Dienstleister konsequent in eine „Produktorganisation“ überführen. Dabei übernahmen rund 90 Produktteams gemeinsam mit den Produktverantwortlichen aus den Fachbereichen die Verantwortung für sämtliche Software- und Analytikbasierenden Kompetenzen.
Ganz ohne Aktionismus wurde dabei vor allem auf den Auf- und Ausbau der technischen Fähigkeiten in den Teams geachtet und Agilität mit einem Schwerpunkt auf messbaren Kundenerfolg umgesetzt. Diese agile Transformation war der Schlüssel zur erfolgreichen Bewältigung zahlreicher Aufgaben, insbesondere auch während der Coronakrise.
Doch die Implementierung agiler Arbeitsweisen ist kein Selbstläufer: Häufig zeigt sich in der Praxis, dass die Entscheidung für oder gegen Agilität je nach Anwendungsfall in die entsprechenden Bereiche herunterdelegiert wird. Es fehlen klare Vorgaben, was innerhalb der Teams zu Unsicherheit und Effizienzverlusten führt. Im schlechtesten Fall werden die Prozesse am Ende sogar noch ineffizienter.
Diese Entwicklungen zeigen, dass die notwendige Konsequenz für einen Wandel hin zu mehr Agilität in den Führungsetagen oft noch fehlt – zu groß sind die Skepsis und die Sorge, Kontrolle abzugeben. Ohne diese Bereitschaft der gesamten Führungsspitze, den Wandel anzustoßen und konsequent voranzutreiben, funktioniert es aber nicht, selbst wenn CIOs sich des Themas aktiv annehmen.
Leadership-Ansatz ist zielführend
Unternehmen brauchen also beides: Teststellungen, um agile Arbeitsweisen innerhalb der Organisation auszuprobieren, aber auch das Commitment der Entscheider für die breite Implementierung agiler Methoden. Häufig haben Mitarbeitende auf der dritten oder vierten Hierarchieebene bereits viel Leidenschaft und Zeit investiert; für einen durschlagenden Erfolg fehlt jedoch der entscheide Anstoß von oben.
Bleibt die Top-down-Vorgabe aus, verzetteln sich Unternehmen in den vielen unterschiedlichen Ansätzen, wie Agilität gelebt werden kann. Das wiederum führt häufig zu Problemen an den Schnittstellen mit nichtagilen Bereichen. Ein wichtiger Baustein beim Einführen agiler Arbeitsweisen ist, die erzielten Ergebnisse zu messen und transparent zu machen. Die jeweiligen Teams sollten sich nicht daran messen lassen, wie viele Funktionsanfragen sie umgesetzt haben, sondern vielmehr am tatsächlichen Business-Ergebnis. Das können etwa mehr Kundeninteraktionen sein, geringere Stückund Prozesskosten oder höhere Konversionsraten. Wenn die Organisation lernt, auf den Ergebnisbeitrag statt auf Durchsatz und Produktivität zu achten, motiviert das auch die Teams und erlaubt mehr Eigenständigkeit und Autonomie.
Agilität ist der Turbo, der es Unternehmen ermöglicht, mit der neuen Geschwindigkeit der Weltwirtschaft Schritt zu halten. Je länger Organisationen einen breiten Einsatz agiler Methoden hinauszögern, desto schwieriger wird die bereichsübergreifende Zusammenarbeit. Es ist deshalb Zeit, Agilität nicht mehr als ein chaotisches Modell zu begreifen, das eine funktionierende Struktur aus dem Gleichgewicht bringt – Stichwort: „Never change a winning Team“ – sondern als Antwort auf die zahlreichen neuen Herausforderungen. Wichtig dabei ist Klarheit, in der Strategie ebenso wie in den Prozessen und Funktionen. Nur so lässt sich die bereichsübergreifende Flexibilität im nötigen Umfang erreichen. Es ist Zeit, diese Klarheit in allen Bereichen zu schaffen und weiter voranzutreiben.
Kirsten Weerda, Partnerin bei der Unternehmensberatung McKinsey, und Karel Dörner, Senior Partner im
Münchner Büro von McKinsey [redaktion@cio.de]