... englischen Derby hatte sich bereits mit Titeln wie Rick Dangerous, Thunderhawk, Soulstar und Battlecorps einen internationalen Namen gemacht. Die Arbeit des Teams wurde so sehr geschätzt, dass Konsolenhersteller wie Sony und Sega um die Dienste des Studios wetteiferten. Alle wollten ihren nächsten Hit von Core Design entwickeln lassen. Sony war dabei, mit der Playstation in den Konsolenmarkt einzusteigen und Sega bereitete sich auf den Release des Saturn vor. Während man bei Sony noch zögerte, war man sich mit Sega sehr schnell über eine Zusammenarbeit einig. Kurze Zeit später wurde mit den konzeptionellen Arbeiten an Tomb Raider begonnen. Die Entscheidung, eine neue Marke aufzubauen, statt auf die bereits erfolgreichen eigenen Reihen zu setzen, hatte unter anderem mit dem Durchbruch der 3D-Technik zu tun. Dafür waren Marken wie Thunderhawk und Chuck Rock einfach nicht ausgelegt. Die erste Grundidee, aus der mal Tomb Raider werden sollte, drehte sich um eine Mischung aus Erkundung, Action und dem Lösen von Puzzles, die in Ägypten rund um die Pyramiden angesiedelt sein sollte. Es war auch früh klar, dass man die Third-Person-Ansicht verwenden wollte, damit der Hauptcharakter immer im Mittelpunkt stehen würde. Dieser ursprüngliche Pitch stammte von Core-Design-Entwickler Toby Gard.
FRAU INDIANA JONES
Als die Arbeiten begannen, stellte Gard zunächst einen männlichen Protagonisten vor. Dieser erinnerte die Studio-Bosse jedoch zu sehr an Indiana Jones und sie befürchteten kostspielige Klagen. Zum Glück hatte Gard auch ein Konzept für eine Heldin vorbereitet. Je weiter die Ausarbeitung des Spiels voranschritt, umso mehr verfestigte sich der Gedanke, eine Frau im Zentrum des Spiels zu haben. Die Firmenleitung hatte zwar Vorbehalte gegen diesen unerprobten Ansatz, gab aber schließlich nach. Erste Entwürfe für die Heldin orientierten sich an Tank Girl des britischen Comiczeichners Jamie Hewlett und zeigten sie als Archäologin und Söldnerin in einem sehr martialischen Stil. Sie war jedoch zunächst keine Britin, sondern sollte eine Südamerikanerin sein, die auf den Namen Laura Cruz hört. So richtig zufrieden war man damit jedoch nicht. Die Studioleitung befürchtete fehlende Anziehungskraft auf dem englischsprachigen Markt. Also entschied man sich, die Protagonistin zu einer Britin zu machen. Und wenn man schon mal dabei war, machte man sie so britisch, wie es nur ging – mit elitärer Schulbildung und einer Herkunft in der englischen Aristokratie. Der Name Lara Croft kristallisierte sich schließlich beim Durchblättern von Telefonbüchern heraus. Ihr Aussehen entstand dann zum Teil aus praktischen Überlegungen und technischen Beschränkungen. So wollte Toby Gard seiner Heldin unbedingt ein stark feminines Aussehen verpassen. Dazu sollten auch sehr lange Haare gehören. Ein Pferdeschwanz war aber die einzige Möglichkeit, wie das im Spiel technisch realisierbar war. Da Laras Kleidung ihre Athletik unterstreichen sollte, entschied man sich für einen Turnanzug, auch Leotard genannt. Shorts, Stiefel, Holster und Rucksack komplettierten schließlich den bis heute ikonischen Look Lara Crofts.
DIE 3D-TECHNIK IST DER STAR
Doch mit einem groben Design hatte man ja noch kein Spiel. Die Tomb-Raider-Erfinder um Toby Gard hatten noch nicht einmal einen Programmierer in ihrem kleinen Team. Niemand bei Core Design kannte sich mit Programmierung für 3D-Spiele aus und traute sich an die neue Technik heran. Erst, als mit Paul Douglas ein neuer Entwickler eingestellt wurde, konnten die eigentlichen Arbeiten beginnen. Spieleentwicklung hatte damals noch immer den Charme von Garagenprojekten. So waren es zunächst vor allem Toby Guard und Paul Douglas, die zu zweit an grundlegenden technischen Systemen, Modellen und Prototypen arbeiteten. Insgesamt bestand das Kernteam von Tomb Raider nur aus sechs Personen. Hinzu kamen zeitweise ein paar Künstler und Spezialisten für Sound und Musik. So entstanden schließlich Tools zum Bau der Level, Animationseditoren und 3D-Modelle. Allen voran natürlich für das von Lara. 3D-Grafik steckte, wie zuvor erwähnt, noch in den Kinderschuhen, und die Hardware der Zeit konnte noch nicht mit allzu vielen geometrischen Objekten auf einmal umgehen. So bestand das Modell von Lara Croft am Ende aus gerade einmal 250 Polygonen. Zum Vergleich: die moderne Lara aus Rise of the Tomb Raider besteht aus 200.000 Polygonen. Die Entwickler mussten sogar noch Einschnitte machen, um die Polygonzahl von Lara nicht zu groß werden zu lassen. So wurde ihr markanter langer Zopf geopfert. Die technische Entwicklung und das Experimentieren mit den Möglichkeiten der 3D-Umgebung waren es, die das Projekt vorangetrieben. Einen wirklich durchdachten Plan gab es eigentlich nicht. So begann Toby Gard auch erst ein Jahr nach Entwicklungsbeginn damit, eine Story für das Spiel auszuarbeiten. Ungefähr sechs bis sieben Monate vor Release begannen die eigentlichen Arbeiten am Spiel, während der die Level gebaut und mit allen anderen Mechaniken verwoben wurden. Ein Zeitraum, der in heutigen AAA-Produktionen mit Hunderten Entwicklern allein für Feinschliff und Qualitätskontrolle draufgeht, reichte dem kleinen Core-Design-Team, um ein Spiel zusammenzuschustern, in dem die Technik der wahre Star war. Der Aufstieg von Lara Croft zur Pop-Ikone war laut Studiochef Jeremy Heath-Smith nur ein unerwarteter Nebeneffekt.
EIN MEISTERWERK
Entstanden ist aber mehr als nur ein technischer Meilenstein. Im PC-Games-Test war damals von einer „genialen Mischung aus Action, Plattform-Game und einer Prise Adventure“ die Rede. Zusammengehalten wurde das alles durch eine spannende Geschichte. Lara wird von einer Geschäftsfrau auf die Suche nach einem antiken Artefakt geschickt, dem sogenannten Scion. Dabei reist die gut bewaffnete Archäologin nach Peru, Griechenland, Ägypten und schließlich nach Atlantis. An all diesen Schauplätzen erkundet Lara hübsch gestaltete Gräber und Dungeons, vollgestopft mit Rätseln und Geheimnissen. Gerade das intelligente Leveldesign mit seinen Fallen, Hebeln, versteckten Schlüsseln und gelegentlichen klaustrophobischen Unterwasser-Abschnitten wusste auf neuartige Weise zu begeistern. Mit ihren ikonischen Doppelpistolen, denen auf wundersame Weise nie die Munition ausgeht, kämpfte Lara gegen aufdringliche Tiere wie Wölfe, Affen und sogar Raptoren. Unvergessliche Highlights bleiben dabei natürlich Bosskämpfe, etwa gegen einen T-Rex und Laras böse Doppelgängerin. Als revolutionär und ungewöhnlich galt seinerzeit die Kamera, die der Spielfigur folgt. Bis dahin war man von 3D-Spielen vor allem die Ego-Ansicht gewohnt. Die neue Perspektive erlaubte es den Entwickler allerdings, Genre-Elemente aus Jump & Run, Shoot ’em Up und Action-Adventure miteinander zu verknüpfen. So lobten wir im Test unter anderem auch die „klug durchdachte und präzise Tastatursteuerung“. Eine Einschätzung, die kein Spieler, der moderne Steuerungsmethoden gewohnt ist, heute noch so treffen würde. Allgemein ruft es aus heutiger Sicht das ein oder andere Schmunzeln hervor, wenn man sich anschaut, mit welchen Superlativen einzelne Spielelemente beschrieben wurden. So wurden die mehr als 20 verschiedenen Bewegungsanimationen von Lara als „absolut realistisch und natürlich“ bezeichnet. Auch bei der Grafik fielen Begriffe wie „Fotorealismus“ und „unübertroffen“. Viele dieser Aussagen und auch die betroffenen Spielelemente selbst sind sehr schlecht gealtert. Unbestritten bleibt jedoch bis heute, dass Tomb Raider ein Meilenstein war, der die Messlatte für 3D-Actionspiele in vielen Aspekten höher gelegt und mit Lara Croft eine der ersten großen Popkultur-Ikonen aus dem Bereich der Videospiele hervorgebracht hat.
CHARTSTÜRMER
Die Verantwortlichen bei Core Design und Eidos wollten bis zum Release aber noch nicht so recht an den Erfolg ihrer neuen Marke glauben. Trotz positiver Vorzeichen und Vorberichterstattung rechnete man im Budget zunächst nur mit 100.000 verkauften Exemplaren – es sollten am Ende sieben Millionen werden. Unmittelbar nach dem Release am 25. Oktober 1996 stürmte Tomb Raider die Spitzenposition der Charts in den USA und Großbritannien. Von dort ließ sich das Spiel auch so schnell nicht mehr vertreiben. Die Fachpresse lobte das Spiel durch die Bank weg und vergab Spitzenwertungen. In der Folge regnete es zudem einen Award nach dem anderen. So wurden der Titel auf der European Computer Trade Show für die beste Marketingkampagne, als PC-Spiel des Jahres, Core Design als Entwickler des Jahres und Eidos als Publisher des Jahres ausgezeichnet. Hinzu kamen zahlreiche weitere Auszeichnung für beste Animation, bestes Actionspiel und Spiel des Jahres bei verschiedensten Preisverleihungen. Davon profitierte Publisher Eidos natürlich auch wirtschaftlich. Um genau zu sein, hat Lara Croft höchstwahrscheinlich das Überleben der Firma gesichert. So wurde aus einem für 1996 verzeichnetem Verlust von 2,6 Millionen US-Dollar ein Gewinn von 14,5 Millionen im kommenden Jahr. Die Verkaufszahlen für Tomb Raider konnten nur vom direkten Nachfolger wiederholt werden. Erst mit dem Reboot von 2013 schaffte es die Reihe, diese Marke zu übertreffen.
DER AUFSTIEG DER LARA C.
Zwar hatten die Entwickler den Erfolg des Spiels unterschätzt, womit sie aber überhaupt nicht gerechnet hatten, war der Aufstieg von Lara Croft zum multimedialen Superstar. Rückblickend sagt Core-Design-Gründer Jeremy Heath-Smith, dass die Zeit gerade richtig dafür war. Mit Phänomenen wie den Spice Girls gab es Mitte der 90er-Jahre eine gewisse „Girl Power“-Stimmung, für die Lara genau zur richtigen Zeit auf der Bildfläche erschien. So wird Tomb Raider auch ein gewisser positiver Einfluss zugeschrieben, was die Öffnung der Welt der Videospiele für Frauen angeht. Lara Croft hat erstmals unter Beweis gestellt, dass Actionhelden nicht zwingend männlich sein müssen. Sie hat auch gezeigt, wie eine Marke über ihre reine Daseinsform als Videospiel hinauswachsen kann. Lara Croft ist inzwischen so viel mehr als nur die Hauptfigur eines Videospiels. Sie ist eine Ikone der Popkultur, ein Hollywood-Star, ein Promi, mit dem sich andere Stars gerne umgeben, eine knallharte Actionheldin, die in Musikvideos deutscher Punkbands auftritt und so vieles mehr. Das alles verdankt sie den revolutionären Ideen Toby Gards und seines Teams sowie dem wegweisenden Spiel, das Tomb Raider seinerzeit war und heute noch ist.