... noch niemals gesehen hatte. Insbesondere der hoch aufgeschossene junge Mann in der dritten Reihe hatte es ihr angetan. Wer das wohl war?
Nach der Begrüßung und ersten Gebeten sang der Chor „Schneeflöckchen, Weißröckchen“, was besonders gut passte, da es wieder zu schneien begonnen hatte. Dicke Flocken wirbelten auf die Erde. Erste Gedichte wurden vorgelesen, und nach einer kleinen stillen Andacht sang der Chor „O Tannenbaum“.
Lisa war eigentlich hoch konzentriert, doch da hörte sie ein Geräusch … ein klägliches Jammern oder Seufzen. Irritiert sah sich Lisa um. Ihre Freundinnen schienen nichts gehört zu haben, und auch Lisa sang inbrünstig weiter, doch das Geräusch war wieder zu hören. Bildete sie sich das nur ein?
Lisa richtete ihre Augen wieder nach vorne und stellte sofort fest, dass der hoch aufgeschossene Mann sich ebenfalls suchend umsah. Hatte er das Geräusch auch gehört? Ihre Blicke trafen sich, und der Mann gab ihr pantomimisch zu verstehen, dass er sich auf die Suche machen wollte. Lisa nickte, sang weiter, ließ aber den Mann nicht aus den Augen. Er hatte sich durch die Menge gefädelt und war in den Wald gegangen, wo er sich suchend umsah. Kaum waren die letzten Töne von „O Tannenbaum“ verklungen, stand Lisa an seiner Seite. „Was war denn das?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht. Aber es klang wie ein Tier in Not“, antwortete der Mann.
Im Schnee sitzt ein nasses Kätzchen
Während die Menschen bei der Adventsandacht ihr Schlussgebet sprachen, streiften Lisa und der Fremd e durch den Schnee, doch sie fanden nichts. Das Jammern hatte mittlerweile nachgelassen, daher wussten sie nicht, ob sie an der richtigen Stelle suchten, doch dann hörte Lisa plötzlich eine Art Rascheln. „Komm“, sagte sie zu dem jungen Mann, den sie in der Aufregung einfach duzte, und zog ihn in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatte. Und hier, im verschneiten Totholz, strampelte sich tatsächlich gerade ein kleines Kätzchen aus dem Schnee. Es war patschnass, und jetzt, da es die Menschen sah, begann es, kläglich zu miauen. „Du Armes“, sagte Lisa und griff nach dem Tier, um es an sich zu drücken und es zu wärmen.
„Wie niedlich“, sagte der Mann und streckte seine Hand aus, um es zu streicheln. „Wie alt mag es wohl sein?“, fragte er. „Muss wohl aus einem Herbstwurf stammen. Vielleicht acht oder zehn Wochen. Aber schau, wie mager es ist.“
Der Mann strich noch einmal über das Kätzchen, das aufgehört hatte zu maunzen und stattdessen wohlig schnurrte. „Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte er.
„Ich bringe es zur hiesigen Tierärztin“, schlug Lisa vor. „Sie soll es sich mal anschauen, ob es krank ist. Vielleicht weiß sie auch, ob es vermisst wird. Wenn nicht, suche ich einen netten Platz für das Kätzchen.“
„Darf ich es dann haben?“, fragte der Mann leise. „Ich wohne erst seit Kurzem hier und könnte etwas Gesellschaft vertragen …“
Lisa sah ihn überrascht an.
„Aber ja, klar, gerne“, sagte sie. „Wenn ich es dort besuchen darf? Wir haben das Kleine ja schließlich beide gefunden!“
Der Mann nickte und lächelte glücklich. In der Zwischenzeit war die Waldandacht zu Ende. Die Chorsängerinnen kamen zu Lisa, um sich zu verabschieden. „Schaut, was wir gefunden haben“, sagte Lisa, und alle bewunderten das kleine, nasse Kätzchen, das jetzt wie ein Honigkuchenpferd in Lisas Armen strahlte. „Weiß jemand, wem das Kleine gehört?“ Als alle den Kopf schüttelten, war Lisa erleichtert. Sie hätte es jetzt ungern in andere Hände gegeben als in die dieses Mannes … dessen Namen sie noch nicht einmal kannte!
Es bleibt nicht bei einer Verabredung
Es stellte sich heraus, dass er Thomas hieß und mit dem Wagen an die Lichtung herangefahren war. Er bot Lisa an, sie erst einmal mit dem Kätzchen nach Hause zu fahren, wo sie sich um einen Termin bei der Tierärztin kümmern wollte. Er hinterließ ihr seine Adresse und seine Telefonnummer und bat Lisa, ihn auf dem Laufenden zu halten.
Gleich am nächsten Morgen ging Lisa mit dem Kätzchen zur Tierärztin. Dabei stellte sich heraus, dass ihr Findling ein kerngesunder, wenn auch unterernährter Kater war. Seinem Einzug bei Thomas stand also nichts im Wege.
Mit einem eilends gekauften Transportkorb fuhr Lisa noch am Nachmittag desselben Tages bei Thomas vor. Sie staunte nicht schlecht, als sie sah, dass er in einem hübschen Bauernhaus wohnte – einer idealen neuen Heimat für einen kleinen Kater.
Als Thomas die Tür öffnete, leuchteten seine Augen. Ob das an Lisa oder am Katerchen lag, war schwer auszumachen, doch Lisa sah, dass auch Thomas noch am Morgen eilig ein paar Dinge gekauft hatte: Katzenfutter, Spielzeug und einen kleinen Kratzbaum mit einer Höhle, die sich der Kleine sofort eroberte.
„Alles Gute euch beiden“, sagte Lisa und wollte schon gehen, doch Thomas hielt sie auf: „Darf ich fragen, was du heute Abend machst?“
Lisa zögerte. Sie hatte nichts vor.
„Magst du nicht wiederkommen? Ich könnte uns etwas kochen, und wir könnten ein wenig mit Noel spielen.“ „Noel? Heißt er so?“ „Ja, kommt aus dem Französischen und heißt Weihnachten“, erklärte Thomas. „Und? Kommst du?“, fragte er weich.
Natürlich kam Lisa. Diese Einladung hätte sie niemals ausgeschlagen, zu gut gefielen ihr der Mann, der Kater und auch das nette Haus, das die beiden nun zusammen bewohnten.
Es blieb nicht bei dieser einen Verabredung. Zwei Wochen später verbrachten sie ihr allererstes Weihnachtsfest zusammen – und von da an alle Jahre wieder.
Ende