... länger wir unterwegs waren, desto weniger wollten wir nach Hause zurück. Auf einem Segelboot ticken die Uhren ja ganz anders – du reist viel langsamer, lernst die Länder viel intensiver kennen. Das hat uns immer hungriger gemacht auf neue Begegnungen und Orte. Den größten Kampf führten wir dabei gegen uns selbst, denn man denkt ja immer: „So kann das doch nicht ewig weitergehen.“ Irgendwann waren wir aber so weit, zu sagen: „Warum eigentlich nicht? Wir haben doch keine Verpflichtungen, niemand zwingt uns zurück.“ Was für eine Freiheit, dass wir überall, wo es uns gefällt, sagen können: „Ja, hier bleiben wir!“
FREUNDSCHAFT Auf einem Boot lernt man sich sehr schnell sehr gut kennen. Der kleine Einmaster „Fiete“, den wir uns 2019 für 1000 Euro von unserem Ersparten gekauft hatten und der leider schon nach ein paar Monaten den Geist aufgab, besaß weder richtige Räume noch eine Toilette. Was unser Geheimnis im Zusammenleben auf so engem Raum ist? Ich weiß es nicht. Es passt einfach mit uns! Wir lieben beide das Unterwegssein und teilen so viele besondere Momente miteinander, dass dieses große Glücksgefühl alle negativen Aspekte des Reisens zu zweit überwiegt. Man muss natürlich anpassungsfähig sein und Rücksicht nehmen. Aber mit der Zeit lernt man, auch die Ecken und Kanten des anderen zu akzeptieren. Die Arbeiten an Bord teilen wir uns auf, aber da wir wirklich lieben, was wir tun, streiten wir manchmal eher da rum, wer was machen DARF. Für alles, was das Segeln betrifft, haben wir von Anfang an dafür gesorgt, dass beide alles können. Wenn eine von uns mal ausfallen sollte, muss die andere das Boot ja auch allein sicher in den nächsten Hafen bringen. Bei unseren Landgängen haben wir schon viele sehr unterschiedliche Leute kennengelernt, und es sind auch ein paar echte Freundschaften daraus entstanden. Zu einigen haben wir immer noch Kontakt und sprechen regelmäßig miteinander, selbst wenn man sich nur für zwei Tage vor zwei Jahren irgendwo mal gesehen hat. Auch das macht diese Art zu reisen besonders: Die Gespräche mit anderen sind fast nie oberflächlich, man ist schnell bei persönlichen Themen. Im Zweifelsfall sieht man sich ja eh nie wieder!
RITUALE An Bord passiert eigentlich ständig etwas Neues. Neben essen, schlafen und der Körperhygiene haben wir wenig feste Routinen. Manche Leute folgen ja sogar im Urlaub einem ganz genauen Plan oder bestimmten Abläufen, das wollen wir nicht, und das würde auf dem Boot auch gar nicht funktionieren. Wir wachen ja fast jeden Morgen an einem anderen Ort und zu einer anderen Uhrzeit auf und müssen uns immer an die jeweilige Umgebung anpassen. Außerdem sind wir von Wind und Wetter abhängig, allein deshalb müssen wir flexibel und spontan sein. Pläne ändern sich da ganz schnell mal. Aber genau darin liegt der Charme unseres Nomadenlebens: Wir genießen das Hier und Jetzt! Besonders schöne Momente, wie eine unverhoffte Bootsparty oder ein Kaffee bei einem malerischen Sonnenaufgang, sind einfach unbezahlbar. Das kann man nicht planen, das sind Geschenke. Allein schon dieses Gefühl am Sonntagabend: „Boah, krass, in der Ausbildung hätte ich jetzt schon schlechte Laune, weil ich morgen früh zur Arbeit müsste!“ Da wissen wir, dass wir alles richtig gemacht haben.
ZUHAUSE Heimat und Zuhause sind während der Reise zu unterschiedlichen Dingen geworden. Mit Heimat verbinden wir Personen, unsere Familie, Oldenburg, das bisherige Leben. Anna hat eine sehr große Familie, die nah beieinander wohnt und sich sehr verbunden fühlt. Dieser Rückhalt fehlt ihr hier manchmal. Zuhause hingegen ist heute ein Gefühl, das wir beide mit dem Boot verbinden.
Wir merken das besonders, wenn wir in Häfen anlegen und die Orte erkunden. Dann haben wir schon nach ein paar Stunden das Bedürfnis, wieder „nach Hause“ aufs Schiff zurückzukehren. Wir fühlen uns dort angekommen.
Obwohl wir ständig in neuen, fremden Umgebungen unterwegs sind, fühlen wir uns nicht entwurzelt. Das Boot ist ein super Rückzugsort. Trotzdem hatten wir Ende 2020 ziemlich Heimweh und sind über die Feiertage nach Deutschland geflogen. Es war superschön bei der Familie, wir fühlten uns geborgen, haben dann aber schnell festgestellt, dass wir auf keinen Fall bleiben möchten. Alles war wie immer. Nichts hatte sich geändert, außer natürlich die krassen Einschränkungen, die die Pandemie mit sich gebracht hatte. Wir kamen da gerade aus Schweden, wo ja alles etwas „legerer“ gehandhabt wurde. Als wir dann in Deutschland so richtig mit dem „new normal“ konfrontiert wurden, waren wir echt geschockt. Wir hatten gehofft, alle unsere Freunde treffen zu können, vielleicht eine kleine Willkommensparty … Aber alles, was wir machen konnten, waren Spaziergänge und Zoom-Calls! Wir wären am liebsten sofort wieder aufgebrochen. Mehr denn je wurde uns bewusst, wie anders unser Lebensentwurf mittlerweile aussieht. Natürlich gibt es immer mal Tage, wo wir uns die Familie an Bord wünschen. Es wäre cool, wenn man sie einfach schnell mal zum Abendessen einladen und in den Arm nehmen könnte. Aber man kann eben nicht alles haben.
„WAS KANN SCHON SCHIEFGEHEN, AUSSER DASS WIR WIEDER DA LANDEN, VON WO AUS WIR GESTAR-TET SIND?“
MUT Wenn man wie wir den Wunsch verspürt, an seiner Lebenssituation etwas zu ändern, sollte man nicht warten, bis man 30, 40 oder in Rente ist. Man findet immer genügend Ausreden und Gründe, warum etwas nicht funktioniert. Wir haben uns gesagt: „Was kann schon schiefgehen, außer dass wir wieder da landen, von wo aus wir gestartet sind?“ Wir finden, man darf sich seine Träume erfüllen, auch wenn es nur ein Monat, eine Woche oder ein Wochenende ist. Einfach mal etwas ausprobieren, einfach mal mutig sein und sich ins Unbekannte vorwagen. Weil: Es kann ja richtig gut werden! Wenn man uns anschaut, denken viele vielleicht: Das könnte ich niemals, ich habe ja gar keine Ahnung vom Segeln, und überhaupt, was da alles passieren kann. Ja, stimmt, aber wir haben auch bei null angefangen und Schritt für Schritt alles gelernt. Das war aufregend und manchmal auch etwas unheimlich, aber unter dem Strich sooo bereichernd! Wir sehen mittlerweile in allem, was uns passiert, einen Sinn. Manchmal erst rückblickend, mit etwas Abstand. Als wir unsere Reise mit Fiete bereits nach vier Monaten aufgrund eines Lecks beenden mussten, hatten wir Glück im Unglück, denn dieser ungeplante Zwischenstopp hat uns zu dem Boot geführt, auf dem wir jetzt leben. Es ist eine sogenannte Fahrtenyacht mit kleinem Motor, die Annas Opa uns vererbt hat. Wir hätten Fietes Abgang auch als Scheitern betrachten und in unser altes Leben zurückkehren können. Dann wäre unser Traum buchstäblich untergegangen. Aber für uns war es irgendwie selbstverständlich, weiterzuma-chen. Wir wollten all unser neu erworbenes Wissen, die Neugier und die Energie auf keinen Fall gleich wieder versickern lassen. In den letzten zwei Jahren hat sich alles immer irgendwie ergeben. Man muss nur offen und spontan dem Leben entgegengehen. Malin hat neulich gesagt, und das ist mir so im Gedächtnis geblieben: „Anna, es ist einfach so geil, dass wir immer nur JA zum Leben sagen!“ Man nimmt aus allem irgendetwas mit.
ZUKUNFT Als wir los sind, haben wir alle Zelte hinter uns abgerissen: Wohnung gekündigt, alle Möbel verkauft, sämtliche Verträge beendet. Wir haben alles auf uns zukommen lassen. Unser Buch heißt nicht umsonst „Zwei Mädels, ein Boot, kein Plan“. Das meinen wir ernst: Wir hatten wenig konkrete Vorstellungen und feste Erwartungen, wie sich unsere Reise entwickeln soll, und das ist immer noch so. Nur das Geld ist unser Limit, und auch da sind wir kreativ und vermarkten alles Mögliche. Einer unserer größten Wünsche ist es, irgendwann ins Mittel-meer zu segeln, am liebsten von Insel zu Insel rund um Griechenland. Aber auch Portugal und Spanien reizen uns sehr. Wir haben gerade den skandinavischen Sommer mit seinen langen Nächten und spektakulären Sonnenaufgängen hinter uns, und als Nächstes segeln wir in Richtung Estland, Lettland und Polen. Auch das lassen wir entspannt auf uns zukommen. Jeder neue Ort, den wir kennenlernen, ist ein Gewinn. Wenn wir einen Zwischenstopp in Deutschland machen, freuen wir uns besonders darauf, Annas Opa Heiko zu sehen. Mit ihm hat irgendwie alles begonnen, denn er ist der Einzige in der Familie, der immer schon einen Bezug zu Booten hatte. Und wenn alles klappt, nehmen wir ihn für ein paar Stationen mit auf die Reise. Er ist schon stolze 82 Jahre alt, aber für ein Abenteuer immer zu haben. So soll das!
WEITERLESEN Zum ersten Mal das eigene Buch in den Händen halten: für Anna (re.) und Malin ein Megamoment! Die Erlebnisse der beiden sind bei Polyglott erschienen (16,99 Euro)