... Mutter viele Witze. Es sind immer dieselben. Er hat sich gemerkt, welche besonders gut funktionieren. Seine Mutter ist ein dankbares Publikum. Lacht sie, fällt es ihm leichter, die Schönheit um sie herum wahrzunehmen. Die Palmen. Den feinen Sandstrand. In diesen Momenten ist er sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, seine Mutter zu begleiten. Es ist ihre letzte Reise, das wissen sie beide.
Im September 2018 erleidet Claudia Schreiber ihren ersten Anfall. Wie eine Waschmaschine habe sie sich gefühlt, wird sie später sagen, und ihre Familie vermutet, es handele sich um Epilepsie. Ein Jahr später stellt sich heraus, dass es Alzheimer ist. Sie arbeitet als Journalistin, Schriftstellerin und Kinderbuchautorin, ihr Verstand ist für sie das Kostbarste. Sie hat im Radio und Fernsehen moderiert, auf Bühnen gelesen, Preise bekommen. „Emmas Glück“ ist ihr bekanntester Roman, 2006 wurde er mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle verfilmt. Nun aber ist Claudia Schreiber gezwungen, sich langsam von sich selbst zu verabschieden, von dieser Frau, die für ihre Ideen geliebt und gefeiert wird. Es stürzt die damals 60-Jährige in eine Krise. Eine Familienkonferenz wird einberufen, zusammen mit ihrem Ex-Mann Peter Schreiber, der auch Journalist ist, und den Söhnen Lukas und Moritz. Sie lamentieren nicht lange herum, sondern reagieren pragmatisch: Was ist jetzt zu tun? Die Zeit nutzen, um Träume zu verwirklichen, darin sind sie sich schnell einig, und Claudia Schreiber sagt, sie wolle eine Reise auf die kleine Insel Aitutaki im Südpazifik machen.
Vor 30 Jahren hat sie mal einen Radiobeitrag über die erste Bürgermeisterin der Insel produziert. Ihr Sohn Lukas soll sie begleiten, auch das steht schnell fest, und so bucht er im August 2019 Flüge und Unterkünfte. Seine Mutter schlägt vor, von ihrer Reise zu erzählen, in Buchform, als Film, wie? „Wir machen einen Podcast“, entscheidet Lukas Schreiber, zusammen mit seinem besten Freund führt er eine PodcastAgentur. Zwei Monate später f liegen die beiden über Los Angeles nach Rarotonga, die größte der 15 Cookinseln. Von dort bringt sie eine kleine Maschine nach Aitutaki. Das Wasser ist türkisfarben, die Natur atemberaubend.
„Das Herz hat kein Alzheimer“
Doch Lukas Schreiber beobachtet auch schnell, dass die Krankheit bereits mehr Schaden angerichtet hat als angenommen. Einmal geht ihm seine Mutter fast verloren, als sie Wasser kauft und nicht mehr zu ihm zurückfindet. Das Vergessen frisst sich wie ein Holzwurm in ihr Gehirn. Kurz nach der Ankunft, als sie ihm mehrmals dieselbe Frage stellt, stöhnt er genervt auf. Sie fragt, ob sie eine Belastung für ihn sei, ist verunsichert. Er sagt, dass er einen Jetlag habe, will sie beruhigen, umsonst. An diesem Tag lacht sie nicht, und Lukas begreift, dass er sich zusammenreißen muss.
Zwei Wochen verbringen sie unter Palmen, Claudia Schreiber denkt in dieser Zeit viel über ihre Krankheit nach. Alzheimer ist eine fortschreitende Hirnerkrankung. Sie ist unheilbar, trifft Frauen häufiger als Männer. Mit der Vergesslichkeit fängt es an, irgendwann verändert sich das ganze Wesen, schließlich der Körper, der zum Pf legefall wird. „Soll ich mich vorher umbringen?“, fragt sie sich. „Werde ich in einem Heim leben müssen?“
Die Schriftstellerin hadert mit dieser Krankheit, die ausgerechnet ihren Kopf als Erstes trifft. Ihre Bildung, ihre Fantasie haben sie durch ihre schwierige Kindheit gerettet. Missbrauch hat sie erlebt, Eltern, für die nur das Geld zählte. Ihre Kreativität war wie eine Flucht aus dem seelischen Brachland, in das sie nun zurückkehren soll. Warum ausgerechnet Alzheimer? Die Gedanken zerrinnen ihr wie Wasser zwischen den Fingern. Morgens wacht sie oft orientierungslos auf. Lukas beobachtet, wie seine Mutter um Haltung ringt; nur wie kann sie dem Sterben aufrecht entgegentreten, wenn sie sich täglich neu positionieren muss?
An manchen Tagen stehen die Schönheit der Insel und die Schwere der Gedanken sich unauf lösbar gegenüber. Dann fahren sie zu zweit auf einem Roller über die Insel. Oder sie sitzen auf einer Bank und schauen aufs Meer. Seit sie weiß, dass sie früh sterben wird, fühlt sich Claudia Schreiber „wie ein geschälter Apfel“. Sie reagiert sensibler auf alles, was sie wahrnimmt. Ihr Sohn lernt, sich von ihren klaren Momenten nicht täuschen zu lassen, er trägt die Verantwortung für sie beide. Er übt, sich zu wiederholen. Verzichtet auf Ironie und Wortspiele. Erst zu Hause, als er seine Mutter in ihre Wohnung gebracht und sich verabschiedet hat, bricht er im Auto eines Freundes zusammen, so erschöpft ist er. Er erzählt seinem Vater und seinem Bruder, wie es um seine Mutter steht, und zusammen weben sie ein Versorgungsnetz aus guten Freunden, Neuropsychologen und Physiologen, die Claudia Schreiber regelmäßig besuchen. Sie wohnt in Köln, ihr Sohn in Berlin. Sie telefonieren täglich. Manchmal ruft sie danach noch einmal an, sagt, dass sie sich nicht an das Gespräch erinnere und nur fragen wolle, ob alles in Ordnung sei.
Das Herz, erzählt eine Palliativmedizinerin Lukas Schreiber einige Monate nach der Rückkehr von Aitutaki, hat kein Alzheimer. Auch wenn seine Mutter eines Tages nicht mehr reden könne, werde sie immer noch fühlen.