... im Winter bestiegen wurde, war bemerkenswert. Ein Zufall war es nicht — ebenso war es kein Zufall, wer die Besteiger waren.
Im Rennen um die Erstbesteigung der Achttausender zwischen 1950 und 1964 hatten polnische Bergsteiger keine Rolle gespielt. Der Eiserne Vorhang versperrte ihnen diese Möglichkeit. Als sich der Vorhang schließlich in den 1970er-Jahren zu heben begann, brachen sie aus. Und sie waren hungrig. Winterbergsteigen im Himalaya bot ihnen einen noch immer unerforschten Grenzbereich.
Der Eiserne Vorhang versperrte den polnischen Bergsteigern den Weg im Rennen um die Erstbesteigungen der Achttausender.
»Als wir zum Gipfel aufbrachen, hatten wir bereits die Scheuklappen aufgezogen. Nur noch der Gipfel zählte.«
Grenzwertige Erfahrungen
Extreme Kälte, die Moral und Material gleichermaßen bricht, brachiale Stürme, wochen- wenn nicht gar monatelange Isolation, kurze Tage und lange Nächte, ein reduzierter Luftdruck — all dies macht Höhenbergsteigen im Winter zu einer der extremsten Disziplinen im Bergsteigen. Nicht ohne Grund nannte es der polnische Ausnahmealpinist Voytek Kurtyka »die Kunst des Leidens«. Unter der Leitung von Andrzej Zawada, dem Spiritus Rector des Winterbergsteigens in großen Höhen, hatten sich polnische Bergsteiger auf diese Leiden eingestellt: 1973 mit der Besteigung des Noshaq (7492 m), dem ersten Winter-Siebentausender, und 1974 mit einem Versuch am Lhotse (8516 m). Doch Zawadas Traumziel war der Everest.
Anfangs lief alles scheinbar reibungslos. Schon zehn Tage nach Erreichen des Basislagers Anfang Januar 1980 stand Lager 3 am Fuß der Lhotse-Flanke — und Zawada wunderte sich schon, warum niemand zuvor eine Winterbesteigung versucht hatte. Stürme von 130 Kilometer pro Stunde und nächtliche Temperaturen von minus 40 Grad Celsius gaben bald eine eindeutige Antwort. Die nächsten 850 Höhenmeter über die blankgefegte, glasharte Flanke kosteten die Expedition fast einen Monat. Am 11. Februar schafften es Walenty Fiut und Wielicki endlich auf den Südsattel und verbrachten dort eine miserable Nacht. Emeut fielen die Temperaturen auf minus 40 Grad — doch diesmal im Inneren des Zelts. Am nächsten Morgen stiegen sie ab.
Um sein Team anzuspornen, nahm Zawada nun selbst das Heft in die Hand und stieg trotz unzureichender Akklimatisation in einem Gewaltakt zum Südsattel, um den Gipfelvorstoß vorzubereiten. Zygmunt Heinrich und Sherpa Pasang Norbu versuchten es als Erste und kamen ohne Sauerstoffgeräte bis auf 8350 Meter, bevor sie wegen Lawinengefahr aufgaben. Nun blieben nur noch zwei Bergsteiger übrig: Wielicki und Cichy. Am Morgen des 17. Februar, zwei Tage vor Ablauf ihrer Besteigungsgenehmigung, verließen sie ihr Zelt. »Als wir zum Gipfel aufbrachen, hatten wir bereits die Scheuklappen aufgezogen. Nur noch der Gipfel zählte«, sagte Wielicki später. Un-angeseilt und mit nur einer Sauerstoffflasche pro Person arbeiteten sie sich durch tiefen Schnee und Sturmböen höher. Um 14.25 Uhr standen sie auf dem höchsten Punkt der Welt. Beim Abstieg ging ihnen am Südgipfel der Sauerstoff aus. Nun spürten sie die brutale Kälte doppelt. Die Batterien ihrer Stimlampe versagten und sie tasteten sich in völliger Dunkelheit abwärts. Mit letzter Kraft gelangten sie zurück in ihr Zelt. Als die beiden ein paar Tage später das Basislager erreichten, bereitete man ihnen einen bewegenden Empfang. Für Wielicki war es nach eigenen Angaben die wundervollste Erfahrung seiner ganzen Bergsteigerkarriere. »Eine solch reine Form der Freude habe ich auf keiner meiner Touren jemals wieder erlebt.«
Ang Ritas Ausnahmeleistung
Seit 1980 gab es 32 weitere Versuche, den Everest im Winter zu besteigen. Vier Expeditionen waren erfolgreich, sieben Menschen starben. 1987 bestieg Sherpa Ang Rita den Gipfel am 22. Dezember ohne Sauerstoffgerät, was man aufgrund des niedrigeren Luftdrucks im Winter für unmöglich gehalten hatte. Waren alle Winterbesteigungen zuvor über die Normalroute erfolgt, so erreichten die Japaner 1993 den Gipfel über die schwierige Südwestwand.
Von den beiden polnischen Winter-Erstbesteigern war es Krzysztof Wielicki, der vier Jahre später gemeinsam mit dem unvergessenen Jerzy Kukuczka (1949 — 1989) im Winter auf dem Kang-chendzönga (8586 m), dem dritthöchsten Berg der Welt, stand. 1988 gelang ihm im Alleingang die erste Winterbesteigung des Lhotse (8516 m) und er wurde später der fünfte Bergsteiger auf allen vierzehn Achttausendern. Doch Wielickis wirklich historische Leistung war, dass er drei der fünf höchsten Berge der Welt als Erster im Winter bestieg und dabei an nur einem Flaschensauerstoff einsetzte.
BUCHTIPP
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Die Geschichte des Höhenbergsteigens, vor allem dessen unbekanntere Kapitel und Persönlichkeiten, ist eine Leidenschaft unseres Autors Jochen Hemmleb.