... Dunkle-Wiesenknopf-Ameisenbläuling etwa, ein Schmetterling, der auch in Deutschland vorkommt, imitiert als Raupe den Geruch von Ameisen und lässt sich von ihnen ins Nest tragen – um sich dort, geschützt von der chemischen Tarnkappe, füttern zu lassen oder gar die Ameisenbrut zu fressen. Raupen mancher Ritterfalter sind so gefärbt, dass sie dem Kopf einer Schlange täuschend ähnlich sehen – nähert sich ein Vogel, erschrickt der und fliegt davon. Marderhunde reißen bei Gefahr ihre Augen weit auf, versteifen alle Muskeln und lassen ihre Zunge heraushängen. Raubtiere lassen diese Scheintoten in Ruhe, weil sie kein Aas fressen.
Männchen des Mückenhafts, einer Schnabelfliege, müssen ihr Weibchen mit einem möglichst großen Insekt als Brautgeschenk überzeugen. Anstatt sich auf die anstrengende und gefährliche Jagd zu machen, geben sich manche Männchen als paarungswillige Weibchen aus, warten auf einen potenziellen Verehrer, um dann mit dessen Brautgeschenk abzuschwirren.
Das Täuschen gehört zum Standard repertoire der Evolution. Doch als Lügen, das klassischerweise als eine gewollte Täuschung definiert ist, kann man diese Tricks kaum bezeichnen – anders als die Schwindeleien des Dackels Nico. Sie gehören zu den angeborenen Verhaltensweisen der Tiere. Das Individuum kann sich nicht bewusst dafür oder dagegen entscheiden, sondern folgt einem biologisch determinierten Programm.
Diese Art von Verhalten passt in das naturwissenschaftliche Verständnis des 19. Jahrhunderts. Gefühle, Erwartungen oder Gedanken wurden allein dem Menschen zugestanden. Dabei wird jeder Hundebesitzer bestätigen, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahren auch erkannt hat: dass Tiere ein Innenleben haben, und zwar nicht nur Arten wie Schimpansen oder Berggorillas, die eng mit uns verwandt sind.
Tatsächlich hat sich die Naturwissenschaft in diesem Bereich in den vergangenen drei Jahrzehnten massiv weiterentwickelt. Sie hat herausgefunden, dass Bäume miteinander kommunizieren, Erdhummeln euphorisch sein können und Hummer depressiv. Lange galten auch das Selbstbewusstsein und der Gebrauch von Werkzeugen als exklusiv menschlich. Doch sobald die Forscher genauer hinsahen, merkten sie, dass Tiere fast alles davon beherrschen. Manchmal sogar so etwas wie Sprache.
Die Schimpansin Lucy bekam in den 1970erJahren von ihrem Trainer Roger Fouts die Gebärdensprache für Gehörlose beigebracht. Nach ein paar Jahren konnte sie Hunderte Begriffe unterscheiden und selbst benutzen. Eines Tages fand Fouts einen Kothaufen im Wohnzimmer. Er gab den folgenden Dialog so wieder:
Fouts: „Was ist das?“
Lucy: „Lucy nicht wissen.“
Fouts: „Du wissen. Was das?“
Lucy: „Schmutzig, schmutzig.“
Fouts: „Wessen schmutzig, schmutzig?“
Lucy: „Sues“ (Sue SavageRumbough war eine andere Betreuerin).
Fouts: „Das nicht Sues. Wessen das?“ Lucy: „Rogers.“
Fouts: „Nein! Das nicht Rogers. Wessen das?“
Lucy: „Lucy schmutzig, schmutzig. Tut leid Lucy.“
Die lnterpretation dieser Episode ist unter Forscherinnen und Forschern umstritten: War es bloß Zufall oder tatsächlich eine Lüge mit der Absicht, Fouts zu täuschen? Dafür müsste Lucy in der Lage gewesen sein, sich in ihren Betreuer hineinzuversetzen und seine Gedanken vorherzusagen.
Der Anthropologe Volker Sommer machte bei Langurenaffen in Indien folgende Beobachtung: Das Alphamännchen hatte sich einen Dorn in den Fuß getreten und wurde von rangniederen Artgenossen herumgeschubst. Sie fraßen ihm auch die reifen Akazienschoten weg, die unter den Sträuchern lagen. Als die jüngeren Tiere sich wieder dem Männchen näherten, stieß dieses einen Alarmruf aus, mit dem die Tiere einander vor Hunden oder Tigern warnen.
Die Gruppe floh daraufhin in die Baumkronen, während das verletzte Alphamännchen in Ruhe die Schoten am Boden aß. Von Grünen Meerkatzen gibt es ähnliche Beobachtungen.
Solche Anekdoten sind faszinierend, weil sie an eine der spannendsten Fragen der Verhaltensforschung rühren: Können sich Tiere in andere Tiere hineinversetzen? Eine solche „mentale Repräsentation“ ist eine der Grundlagen für eine absichtsvolle Täuschung. Dafür sind große kognitive Fähigkeiten und ein Gehirn nötig, das gut an soziale Situationen angepasst ist. Lange dachte man, dass dafür ein stark ausgeprägter präfrontaler Kortex unabdingbar sei, wie ihn etwa Menschen und Affen haben, nicht aber Vögel. Neuere Forschungen zeigen, dass Vögel trotz ihres anders aufgebauten Hirns erstaunlich intelligent sind.
Besonders unter sozialen Arten wie Raben und Papageien findet man deshalb echte Lügner. Wenn Krähen in der Nähe eines dominanten Artgenossen Futter verstecken, legen sie leere Verstecke an oder suchen zunächst nach vorher verstecktem Futter an einem falschen Ort, um den anderen in die Irre zu führen.
Dass sich die Lüge in der Tierwelt etabliert hat, spricht dafür, dass gezielte Täuschungen die Überlebensund Fortpflanzungschancen erhöhen. „Immer geht es darum, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen“, sagt der Verhaltensbiologe Tobias Rahde, der Kurator des Berliner Zoos ist. Unter den Schimpansen in seinem Zoo etwa komme es vor, dass rangniedere Tiere beliebtes Futter verstecken und gegenüber den Ranghöheren so tun, als gäbe es davon nichts mehr. Dominantere Individuen hingegen hätten das nicht nötig.
Es gebe bei der Lüge aber durchaus so etwas wie ein goldenes Maß, sagt Rahde: „Man kennt es von Menschenaffen oder Raben – werden sie zu oft der Täuschung überführt, verstößt die Gruppe sie.“
Für Rauhaarteckel Nico galt das nicht. Er durfte immer bleiben, auch wenn er ständig auf seinen Vorteil bedacht war, wie meine Mutter sagt. Manchmal musste er nachts nach draußen, um zu pinkeln. Wenn es dann regnete, wollte er sofort wieder herein – doch das durfte er erst, nachdem er sein Geschäft erledigt hatte. Bald hatte er gelernt, dass es ausreichte, vor seiner verschlafenen Besitzerin nur so zu tun und kurz das Bein zu heben. Doch auch diese Lüge flog bald auf, denn nach einer halben Stunde war Nicos Harndrang wieder groß, und er musste erneut raus.