... Mausklicks kaufen wir Bücher, nehmen an einer Konferenz teil und reisen in die abgelegensten Länder. Die Welt ist für uns rasend schnell verfügbar. Und doch haben wir in der Zeit keinen Schritt getan, keine Türen geöffnet, keinen neuen Ort betreten. Es scheint Realität geworden, was der französische Philosoph Paul Virilio im Jahr 1990 als »rasenden Stillstand« beschrieben hat. Wir nutzen die Zeit immer optimierter, ohne Bezug zum tatsächlich gelebten Moment. Seit der Pandemie findet unser Leben immer häufiger virtuell statt. Freunde treffen, Seminare besuchen, an Workshops, Sportkursen und Musikveranstaltungen teilnehmen – das alles geht heute online. Vor allem auch unser Einkaufsverhalten hat sich nachhaltig verändert. Bequem vom Sofa aus shoppen? Für viele von uns mittlerweile Alltag, um an die neuen Schuhe, den spannenden Bestseller, die praktische Küchenmaschine oder an Lebensmittel zu kommen. Dieser Trend ist älter als die Pandemie, doch die Krise hat ihn noch verstärkt.Werden einladende Schaufenster mit liebevollen saisonalen Dekorationen, ausgiebige Shoppingtouren durch die Innenstädte, freundliche Beratungsgespräche und belebte Marktplätze also demnächst der Vergangenheit angehören? Der stationäre Einzelhandel musste im Verlauf der Krise viele herbe Verluste und Einschläge verkraften. Und ein Ende der Pandemie ist noch nicht in Sicht.
Ladenschluss – sterben unsere Innenstädte?
Nach Berechnungen des Kölner Handelsforschungsinstituts IFH wird es bis zum Jahr 2023 bis zu 79.000 Einzelhandelsgeschäfte weniger geben. »Damit wird in den kommenden zwei Jahren nach unserer Einschätzung etwa ein Fünftel der Geschäfte aufgeben. Der Strukturwandel wird durch die Folgen der Pandemie noch einmal deutlich beschleunigt«, sagt Eva Stüber, Handelsexpertin und Mitglied der Geschäftsleitung des IFH. Das liegt auch daran, dass immer mehr Menschen online einkaufen. So wurden im Jahr 2020 nach Berechnungen des IFH 14,4 Milliarden Euro zusätzlich im Online-Handel ausgegeben. Damit war der Zuwachs im E-Commerce mehr als doppelt so hoch wie im Jahr zuvor. Seine Anfänge hat der Online-Handel in den Jahren 1994/1995. Damals wurde das Internet für die Wirtschaft geöffnet und die ersten Unternehmen drängten ins Netz, um darin Geschäfte zu machen. Am 11. August 1994 fand der erste dokumentierte Verkauf über einen Onlineshop statt. Phil Brandenberger aus Philadelphia bestellte sich über den US-Marktplatz Netmarket die Sting-CD »Ten Summoner’s Tales«. Heute bevorzugt bereits jeder Dritte Online-Einkäufe – und das einmal in der Woche. Immmerhin kann man rund um die Uhr einkaufen, ohne dabei in einer Kassenschlange warten zu müssen – und es lassen sich Angebote und Preise bequem vergleichen.
Hier begegnen sich Menschen und tauschen sich aus
Dennoch hat das Einkaufen im Internet auch viele nachteilige Auswirkungen, zum Beispiel ökologischer Natur. Die steigende
Paketflut und eine immer schnellere Zusendung belasten die Umwelt. Zusätzlich müssen wir uns selbst die grundlegende Frage stellen, in was für einer Art von Stadt wir einmal leben wollen. Sollen unsere Innenstädte weiterhin ein Ort der Begegnung sein, wo wir uns bei Veranstaltungen treffen und in verschiedenen Läden stöbern können? Bereits auf den Märkten im Mittelalter diente das »Shoppen« – zu dieser Zeit wusste natürlich noch niemand, dass man das irgendwann so nennen würde – auch und vor allem der Kommunikation zwischen Menschen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Innenstädte sind Erlebniswelten. Hier hält man sich gerne länger auf, trinkt noch einen Kaffee, entdeckt Neuheiten und trifft Nachbarn und Bekannte. Würden wir nur noch online einkaufen, würden sich Innenstädte und das Shopping-Erlebnis grundlegend ändern. Denn es macht einen Unterschied, ob man zu Hause vor dem Laptop sitzt oder durch eine Einkaufsstätte mit all ihren Geräuschen, Gerüchen und perfekt ausgeleuchteten Angeboten läuft. Wer das Einkaufen mit allen Sinnen erleben möchte, wird mit ein paar Mausklicks definitiv nicht fündig.
Die Kundenberatung macht den Unterschied
»Trotz des Bedarfseinkaufes, der auch in Zukunft überwiegend online ablaufen wird, bleibt der Einkauf im stationären Han- del bedeutsam«, erklärt der Münchener Diplom-Psychologe Dr. Hans-Georg Häusel. »Gerade weil der Mensch einen Großteil seiner Zeit digital verbringt, ist das Einkaufen vor Ort ein sinnliches Kontrastprogramm. Der physische Einkaufsraum, das Geschäft, wird zunehmend zum Medium, um emotional anregende Erlebnisse zu vermitteln. Die Einkaufslust und Freude stehen hier im Vordergrund und das Eintauchen in eine andere Welt. Keine Bestellung im Internet kann das leisten.« Im Fachgeschäft ist der Kunde immer noch König – und Königin. Wo sonst gibt es diese Form der fachkundigen Beratung im Angesicht der Fülle an Produkten? Das wird vor allem auch im Reformwaren-Fachgeschäft deutlich, wo Beratungskompetenz und Expertenwissen in Sachen Gesundheit an erster Stelle stehen. Wie geht Basenfasten, was tun bei Hautproblemen, was stärkt das Immunsystem? Die Reformhäuser wie auch weitere Fachgeschäfte vor Ort bieten Kundinnen und Kunden die Möglichkeit, sich interaktiv und individuell beraten zu lassen. Hier gibt es die Möglichkeit, die verschiedenen Produkte und Dienstleistungen aus der Nähe zu betrachten, sie auszuprobieren oder anzufassen. Dies ist wohl der größte Vorteil, den das Shopping vor Ort mit sich bringt: persönliche Beratung und die Chance, über die Güte des Produkts live zu entscheiden. Das ergab auch eine Bitkom-Umfrage. Auf die Frage nach den Gründen, warum sie im Internet noch nie etwas gekauft hätten, antworteten die meisten: »Ich will das Produkt sehen und anfassen, bevor ich es kaufe« (71 Prozent). Danach rangierten
Gemeinsam stark
SMART CITY: Eine digitale Infrastruktur der Innenstädte muss her, z. B. schnelle Internetverbindungen, damit der stationäre Einzelhandel die wachsenden B edürfnisse nach digitalisierten und innovativen Serviceleistungen erfüllen kann.
INTERESSENGEMEINSCHAFTEN: Viele Einzelhändlerinnen und Einzelhändler schließen sich in Interessengemeinschaf ten zusammen. Gemeinsam werden verkaufsoffene Sonntage oder Straßenfeste organisiert. Das stärkt nicht nur den Zusammenhalt, sondern schafft auch ein Gemeinschaftsgefühl für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt beziehungsweise der Gemeinde.
» Die Ware aus der Nähe betrachten, sie einmal an-oder ausprobieren – das Einkaufen im Handel ist ein sinnliches Erlebnis. «
Hinderungsgründe wie das Fehlen persönlicher Beratung (61 Prozent) oder Angst vor Missbrauch der Daten (59 Prozent). Das »Interagieren« mit den Produkten hat auch im Zeitalter des Online-Handels nie seinen Reiz verloren. Der Einzelhandel ist einer der wichtigsten und prägendsten Wirtschaftszweige für die Attraktivität unserer Städte und Kommunen. Je lebendiger der Einzelhandel und je höher die Qualität und Vielfalt der Angebote, desto besser schätzen wir das Erscheinungsbild unserer Innenstädte ein. Und das steigert unwillkürlich auch die Lebensqualität. Ansprechend gestaltete Schaufenster und Auslagen wirken auf uns weitaus attraktiver als triste Bürogebäude oder gar Leerstand. Eine Stadt oder Gemeinde, die eine angemessene Angebotsvielfalt bietet, vermittelt uns das Gefühl der Sicherheit. Wir fühlen uns in unserer Umgebung gut versorgt mit den nötigen Dingen des Alltags.
Die Sehnsucht nach Erlebnissen ist groß
Und wo Einzelhandel ist, da sind auch Menschen in Beschäftigung. Insgesamt arbeiten in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen im Einzelhandel. Dass die Deutschen nach wie vor verbunden sind, zeigt der Global Retail Report 2020, für den weltweit mehr als 25.000 Verbraucherinnen und Verbraucher befragt wurden. 69 Prozent der Deutschen erklärten, mehr in den Geschäften in ihrer Nähe einkaufen zu wollen, um sie zu unterstützen. In Zeiten des »rasenden Stillstands« ist die Sehnsucht nach Begegnungen und Erlebnissen groß. Deshalb haben Einzelhandel und Fachgeschäfte auch weiterhin vor, den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen.