KOMPASS EUROPA – DIESMAL AUS: FINNLAND
KOLUMNE
Bildquelle: arte Magazin, Ausgabe 11/2021
→ Nach Ansicht meiner Landsleute ist einer der größten Triumphe in Finnland – neben Bildung und Gleichberechtigung – der Umgang mit Obdachlosig- keit. Da ist etwas dran: Seit Ende der 1980er Jahre ist die Zahl der Obdachlosen von über 18.000 auf 4.100 zurückgegangen. Bei einer rela-die imtiv kleinen Gesamtbevölkerung, selben Zeitraum von 4,9 auf 5,5 Milli-wuchs, ein großeronen Menschen Erfolg. Dahinter steht eine Politik aus den 2000er Jahren: Housing First. Sie besagt, dass die Untervon Obdachlosen inbringung Wohnungen keine Belohnung für das Bewältigen von Problemen wie Drogenmissbrauch oder Schulden ist, sondern dass jeder ein Recht auf Wohnen hat – und es der Schlüssel zur Lösung ist. Vielen Europäern gilt der finni- sche Weg als Vorbild, so gibt es auch in Berlin und Hamburg mittlerweile erste Housing-First-Projekte. Bei meinen Recherchen in Helsinki habe ich einen Eindruck davon gewonnen, wie kompliziert es ist, in Finnland obdachlos zu sein. Wegen der Bürokratie und weil man schwer ohne Adresse, Telefonnummer, Ausweis und Online-Banking- Profil zurechtkommt. Dinge, die leicht verloren gehen, wenn man keinen Ort zum Wohnen hat. Aktuell verschärfen sich die Probleme wieder, da es in Helsinki einfach nicht genug Wohnungen gibt. Auch die Notunterkünfte sind voll, jede Nacht stehen Menschen vor der Tür und wissen nicht, wohin. Dringend gebraucht werden kurzfristige Übergangslösungen: Notunterkünfte und Erstwohnungen. Als unlängst ein Gebäude mit etwa 70 Erstwohnungen verkauft wurde, verloren mehr als 60 Menschen ihr Zuhause. Sie wurden in andere Wohnungen umgesiedelt. Für alle, die auf der Warteliste stehen, dauert es nun oft ein Jahr oder länger, bis sie eine Wohnung bekommen. Positiv ist, dass die finnische Regierung und die Stadt Helsinki sich verpflichtet haben, Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Aber wenn wir nicht schnell Hunderte neuer Wohnungen bekommen, sollten wir besser anfangen, uns neue finnische Erfolgsgeschichten auszudenken.
ZUR PERSON
Bildquelle: arte Magazin, Ausgabe 11/2021
Tuija Siltamäki, Journalistin
Die 29-jährige Finnin lebt in Helsinki und ist Chefredakteurin der Zeitung Ylioppilaslehti. Sie schreibt über Herausforderungen ihrer Generation und Konflikte zwischen Jung und Alt.
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