... verdrängen möchte. Ich erweiterte den Horizont meiner Leser mit der Neuigkeit, dass der damals erst 15-jährige Spanier etwas mit einem anderen 15-Jährigen, dem Franzosen Richard Gasquet, gemein habe – nämlich dass beide Jungs eine einhändige Rückhand spielen. Eine einhändige! Mein Gott, Nadal spielte natürlich immer beidhändig.
Ich muss zugeben, dass ich zum damaligen Zeitpunkt Nadal niemals – weder auf dem Court noch auf dem Bildschirm – habe spielen sehen. Die Erfindung YouTube gab es erst drei Jahre später.
2005 saß ich mit dem Teenager Nadal und dessen Familie in einem Kleinbus. Wir fuhren spät abends durch das nächtliche Paris, direkt nachdem er die French Open gleich beim ersten Anlauf gewonnen hatte. Übrigens: Ich war auch im Auto dabei, als er und sein Teamkollege Roger Federer sich direkt vor dem ersten Laver Cup im September 2017 auf dem Rückweg in ein Fünf-Sterne-Hotel im verregneten Prag sowohl Transportmittel als auch Interview teilten.
Was ich aus diesen Erfahrungen gelernt habe? Dass Talent, Demut und Leidenschaft eine mächtige und zugleich seltene Mischung sind: eine die in ungewöhnlicher Weise dazu führt, in einer Machtposition zu verbleiben, unabhängig davon, was viele andere von uns Reportern prophezeit haben.
Nach Gesprächen mit Coaches und Physiotherapeuten waren meine Kollegen – und auch ich – davon überzeugt, dass er aufgrund seines druckvollen Spiels eine relativ kurze Karriere haben würde. Was dazukam: Wegen seiner ungewöhnlichen und extremen Vorhandtechnik schien er unfähig, mit seinem Aufschlag „freie Punkte“ zu machen. In unseren Augen würde eher ein Gustavo Kuerten als ein Andre Agassi aus diesem Jungen aus Mallorca werden – wie man sich irren kann.
MIT NADAL NACHTSPER AUTO IN PARIS
ERFOLGSS-DUO: Seit Beginn der Saison ist Carlos Moya (li.), der ehemalige Mentor, Cheftrainer im Team Nadal.
LANGE WEGE: Was Kampfkraft und Siegeswille angeht, kann es kein Profi in der Geschichte des Tennis mit dem Dauerläufer Rafael Nadal aufnehmen.
Obwohl sich Nadal immer wieder Verletzungen zuzog und mit Rückschlägen zu kämpfen hatte, bewies er uns Reportern und der ganzen Tenniswelt, dass wir uns grob in ihm getäuscht hatten. Aus Verletzungspausen kehrte er stets noch stärker zurück.
Elf Titel in Monte Carlo, elf Titel in Barcelona, zehn Titel – Stand jetzt – bei den French Open: das sind so unfassbare Zahlen, an die kein Spieler der Historie herankommt.
Talent. Demut. Leidenschaft.
Nadal hätte es niemals mit nur zwei dieser Zutaten geschafft. Er brauchte alle drei.
Das Talent war von vornherein offensichtlich: die flinke Fußarbeit, die natürliche Kraft, die Behändigkeit und das Timing. Diese Komponenten gestatteten ihm immer und immer wieder, scheinbar mühelos von Defensive auf Offensive umzuschalten.
Mit seiner Vorliebe, weit hinter der Grundlinie hin- und herzulaufen, schien ein Stoppball so lange eine gute Idee zu sein, bis man es ausprobiert hatte. Selbst der beste Angriffsball kann gegen Nadal nichts ausrichten, weil er die Fähigkeit besitzt, aus unmöglichen Situationen fantastische Passierschläge zu zaubern.
Einige von Ihnen, liebe Leser, denken jetzt, dass es einfacher ist auf Sand als auf anderen Belägen so zu spielen. Aber denken Sie noch einmal nach! „Es ist wesentlich leichter, ein guter Returnspieler auf Hardcourt zu sein, weil man sich von dem Belag besser abdrücken kann“, erzählte mir einmal der ehe- malige French Open-Champion Jim Courier. Nadals Beinarbeit ist eine wissenschaftliche Studie wert, aber vor allem was seine Taktik betrifft, wurde er lange unterschätzt. Er ist in der Lage, mitten im Ballwechsel sein Spiel umzustellen.
DER FAST UNBESIEGBARE: In Paris verlor Nadal nur zwei Matches – 2009 gegen Robin Söderling, 2015 gegen Novak Djokovic. 79 Partien gewann er, einmal konnte er nicht antreten (3. Runde 2016 gegen Marcel Granollers). Foto: Nadal nach dem Halbfinale 2018 in Monte Carlo.
Er verbesserte seinen Aufschlag und während der Jahre, in denen sich die Siege nur so stapelten, entwickelte er einen wunderbaren Touch: Er brillierte am Netz und übertraf auch das, was man auf Französisch „le petit jeu“ – kleines Spiel – nennt. Er variierte aus dem Halbfeld mit spitzen Winkeln und Geistesblitzen sein Spiel.
Demut und Leidenschaft. Sie haben ihn davor bewahrt, nicht auszubrennen oder sich zu langweilen, wie es beispielsweise bei Björn Borg passierte, dem zweitbesten Sandplatzspieler der Geschichte und vielleicht dem einzigen Mann, dessen physische Voraussetzungen sich mit der des Spaniers hätten messen können.
Nadals Bescheidenheit kann gegenüber Außenstehenden manchmal merkwürdig klingen, da er sich weigert das Offensichtliche zu formulieren, nämlich, dass er der Favorit ist. Er ist zu schlau, die Wahrheit nicht zu kennen, aber der Respekt gegenüber jedem seiner Gegner – ganz egal wie unbedeutend dieser sein mag – gebietet ihm diese Form der Höflichkeit. Vor allem: Sie dient ihm als mentale Übung.
LAUT AGASSI DERGRÖßTE FIGHTER
Für Andre Agassi war Nadal, noch bevor er in Roland Garros gespielt hatte „einer der größten Wettkämpfer und Fighter, den es jemals im Sport geben wird“. Persönlich habe ich in meinem ganzen Leben noch nie einen derart unbarmherzigen Spieler gesehen. Einen, der so um Punkt für Punkt kämpft. Allerdings: Monica Seles auf dem Höhepunkt ihrer Karriere kam dieser Unbarmherzigkeit sehr nahe.
Zur Wahrheit über Nadal gehört auch, dass man heute mehr negative Energie spürt als noch Jahre zuvor. Damals war es unmöglich von seiner Mimik und Körpersprache abzuleiten, ob er 5:0 führte oder 0:5 zurücklag. Hat die Wandlung mit seiner Verletzungshistorie zu tun? „Rafa hat in so vielen Jahren mit Schmerzen gespielt“ erzählte mir einmal sein Onkel, Entdecker und inzwischen ehemaliger Coach Toni Nadal.
In dieser Aussage liegt der Beweis seiner Liebe zu diesem Spiel. Der Druck und die Schinderei haben ihren Tribut gezollt – nicht nur am Körper. Spulen Sie in Gedanken noch einmal zurück und denken Sie an die French Open 2005: Damals waren es viel weniger Ticks, die seinen Aufschlägen vorangingen: kein Gesicht berühren, kein an der Nase zupfen, kein Ärmel zurechtrücken.
Er war bereits ein Champion in Lauerposition, als er 2005 mit 19 in Paris seinen ersten French Open-Titel gewann. Bereit dafür wäre er schon früher gewesen, hätte er sich nicht 2003 während des Trainings beim Sprung übers Netz am Ellbogen verletzt und 2004 eine Stressfraktur im Fußgelenk erlitten.
SANDPLATZKÖNIG TRIFFT FÜRSTEN: Rafael Nadal, Prince Albert II von Monaco und Nadals Freundin Maria Francisca Perello.
Nadal hatte vor Paris 2005 im laufenden Jahr bereits fünf Titel auf Sand gewonnen. Obwohl er nur an Position vier gesetzt war, waren sich alle Beobachter einig, dass er es schaffen könnte, seine Zähne in den Coupe des Mousquetaries zu beißen – sein Markenzeichen von Beginn seiner Karriere an.
Und er enttäuschte keinen: Er schlug Lars Burgsmüller, Xavier Malisse, Gasquet, Sebastien Grosjean, David Ferrer, Federer und Mariano Puerta. Keiner der älteren und erfahreneren Gegner schaffte es, ihn in einen fünften Satz zu zwingen. Und als es vollbracht war, lud mich Nadals Pressesprecher Benito Perez Barbadillo zum Champions Dinner ins Café de l’Homme in Trocadero mit filmreifem Panorama-Blick auf den Eiffelturm ein. Nach dem Essen durfte ich ihn, Nadal und seine Entourage zu einer spätabendlichen Fahrt durch Paris begleiten, die in einer Diskothek an der Champs-Elysee weit nach Mitternacht endete.
Andere 19-Jährige, die gerade French Open-Sieger geworden wären, hätten sich mit Champagner begossen und bis zur Morgendämmerung getanzt. Aber Nadal schien bereits reifer zu sein als so mancher Altersgenosse. Er war interessierter daran, andere beim Feiern zu beobachten, als selbst im Mittelpunkt zu stehen.
Dass seine Eltern ihn damals begleitet haben, mag ein Grund gewesen sein, aber ich betrachte es eher als eine Art Vorahnung. Er, wie auch der Rest von uns, muss sich bewusst gewesen sein, dass noch weitere Festlichkeiten folgen würden und dass dies der erste von weiteren French Open-Siegen sein würde. Nur: Wer – Nadal eingeschlossen – hätte gedacht, dass es zehn werden würden?
Es ist eine unglaubliche Leistung, zu Großem bestimmt zu sein und dann die Erwartungen noch zu übertreffen. Außerdem: Die French Open 2018 stehen unmittelbar bevor – die Tenniswelt ist noch nicht fertig mit dem Zählen!