... Korrektur- und Kosmetikmöglichkeiten direkt in die Lackfolien schneiden. Die Band spielt einfach super und hat hörbar Spaß, aber die wahre Wucht ist Smiths unter die Haut gehender Gesang. Diese so hochintensive und klanglich überragende Scheibe ist dank neuem Vertrieb in minimalen Restbeständen wieder verfügbar – zusammen mit der gleichfalls direkt geschnittenen „Pure And Natural“. Wie schon beim in AUDIO 6/22 vorgestellten Trio Elaiza kann man vor den beteiligten MusikerInnen und dem Technik-Team um Tonmeister Rainer Maillard und Schneidingenieur Maarten de Boer nur den Hut ziehen – wohin auch immer.
Kammer-Jazz
Kit Downes
Vermillion
ECM/Universal (Einfachcover, gefütterte Innenhülle)
Das holzgetäfelte Auditorio Stelio Modo des Italienisch-Schweizer Rundfunks RSI in Lugano ist ein magischer Ort. Kit Downes’ dort eingespielte, dritte Scheibe für das Münchener Edel-Label ECM bringt jedenfalls wahrhaft Zauberhaftes zu Gehör. Der britische Pianist hat mit Bassist Petter Eldh – ganz wunderbares Solo in „Sandlands“ – und Drummer James Maddren – grandioses Mit-Spiel etwa in „Class Falls“– eine Trio-Platte eingespielt, die Grenzen verschiebt: zwischen Kollektiv-Spiel und individueller Klasse, zwischen romantischer und verspielter, zwischen klangfarblicher und dynamischer Raffinesse. Ihre abhebende Version von „Castles Made Of Sand“ (Hendrix) tüpfelt mehr als nur ein i. Magisch.
Chanson-Pop
Bilderbuch
Gelb ist das Feld
Maschin (2 LPs Klappcover, bedruckte Innenh., auch CD)
Die Platte „Gelb ist das Feld“ zu nennen und sie dann in ein rotes Rosen-Cover zu stecken – das zeigt den tiefsinnigen Humor und selbstironischen Quatsch, von dem das Austria-Quartett Bilderbuch beseelt ist. Sänger Maurice Ernst singt in einem Falco-Gedächtnis-Mischmasch aus Deutsch und Englisch. Um die teils herrlich ironische, teils herrlich unsinnige Poesie zu verstehen, muss man schon tief in den oft verhallten Mix hineinhören – oder auf den bedruckten Innenhüllen mitlesen. Das würde aber von der meist wundervollen Musik ablenken, mit der sich die einstige Schülerband nun unter die Dream-Pop-Granden einreiht. Einiges Knistern auf LP 1 und das zu enge Mittelloch von LP 2 sind da schnell verziehen.
Blues
Muddy Waters
Hard Again
Music On Vinyl/Bertus (Einfachcover, blaues Vinyl)
Diese Stimme erkennt man sofort: der große Muddy Waters, Chicago-Blues-Legende und Verfasser von jeder Menge Genre-Klassikern. Doch wer kräht da im Hintergrund zu „Mannish Boy“? Der große Johnny Winter. Der begnadete Blues-Albino verhalf seinem Idol 1977 als Produzent und mit grandiosen Gitarrensoli zu einem kommerziellen und künstlerischen Comeback. Mit hartem, rauem, unverkünstelten Blues, für den Waters steht wie kein Zweiter. Winter beließ Studiokommentare im Endmix, was der strammen Produktion mit cooler Band noch mehr Authenzität verlieh. MOV hat eine Jubiläumsausgabe vom 2012er-Remaster auf blauem, auf 4500 Stück limitiertem Vinyl gefertigt. Zugreifen.
Gothic Electronic
Suicide
Surrender
BMG (2 LPs rotes V., Klappcover, bedr. IH, Poster, Booklet)
Martin Rev und Alan Vega († 2016) fanden 1970 in New York zusammen, um fortan mit einer minimalistischen Musik und knallharten Texten ihr Publikum zu verstören. Synthesizer mit einfachsten Motiven, wenige Akkorde in Endlos-Patterns, Simpel-Drummachines und meist parolenhaft eingeworfene Wortfetzen erzeugen eine drückende Atmosphäre, die auch KünstlerInnen wie Anne Clark inspirierte. Produzenten wie Ric Ocasek (The Cars) taten das Ihrige dazu. „Surrender“ ist nun der definitive Sampler auf Doppel-LP, mit Tracks vom Debüts „Suicide“ 1977 bis zum Letztwerk „American Supreme“ 2002, einem Aufsatz von Henry Rollins und einem Poster. Definitiv nichts für Selbstmordgefährdete.
Crooner Pop
Brook Benton
The Best Of – 20 Original All-Time Classics
PanAm/In-Akustik (Einfachcover, gefütterte Innenhülle)
Elvis bei der Army, Buddy Holly abgestürzt – Ende der 1950er hätte Brook Benton (1931–1988) mit seiner exorbitanten Vielseitigkeit als Sänger und enormem Talent als Songschreiber zu den Göttern aufsteigen können. Allein: der Gottbegnadete war schwarz. Immerhin zeigt eine Flut an Samplern, wie gut er frühen Soul, Rock’n’Roll, Schnulzen und Pop singen konnte. PanAm beschränkt sich auf 20 Titel aus den Jahren 1957 bis 1960, dafür gibt es einen gescheiten, das Thema Rassismus aber umschweifenden Begleittext. Die Aufnahmen scheinen nachträglich stereofonisiert, dazu digital entrauscht – und vermitteln dennoch die grandiose Stimme sehr schön. Die DMM-Pressung läuft vorbildlich ruhig.
Jazz, Elektronik
Jacob Karlzon
Wanderlust
Warner (2 LPs im Einfachcover, ungefütterte Innenhüllen)
Der lustige Germanismus „Wanderlust“ diente schon vielen eher angelsächsisch Orientierten (u.a. Paolo Fresu, Tap Brothers, Domenic Landolf, Sophie Ellis Baxtor) als Vehikel für mehr oder weniger eskapistische Musik. Der schwedische Keyboarder und Komponist Jacob Karlzon überschreibt damit ein klangfarbenreiches Instrumentalalbum zwischen rein akustischem Piano-Trio-Jazz über säuselnd elektronische Sphärenmusik bis hin zu simpel rockenden Kraftstücken.
Sein Kerntrio mit Morten Ramsbøl (b) und Rasmus Kihlberg (dr) holt sich akustische Verstärkung von Gitarrist Dominic Miller und Trompeter Mathias Eick sowie auch mal von echten Streichern. Homogener Sound, knauserige Ausstattung.
Mali-Pop
Vieux Farka Touré
Les Racines
BMG (Banderole, 4-s. Booklet, ungef. IH, auch als CD)
Gleich zu Beginn stellt sich dieser wunderbare Flow ein. Der malische Gitarrist und Sänger Vieux Farka Touré, Sohn des African-Blues-Pioniers Ali Farka Touré, kehrt mit seinem in eigenen Studio in Bamako aufgenommenen sechsten Soloalbum ein wenig zu seinen Wurzeln zurück. Und hebt von denen in musikalische Sphären ab, die viel mehr Lebensfreude, Weisheit, Problembewusstsein, Gefühl und Würde transportieren als das pubertäre Potenzgeprotze der meisten Hip-Hop-Sekundärmusiker. Statt sich von „In“-Produzenten Grooves in Rechner zu laden, legen hier afrikanische Musiker echte Rhythmen unter eine sich problemlos auch in westliche Ohren schmeichelnde Musik. Wunderschön: „Lahidoo“.
Speed Metal
Running Wild
Ready For Boarding
Noise/BMG (2 LPs Klappcover, gelbes/orangefarb. Vinyl)
Kompromisslos Vollgas gaben Running Wild bei ihren Auftritten in München 1987 (LP 1, gelbes Vinyl, recht dichter Klang) und Düsseldorf 1989 (LP 2, orangefarben, etwas offener, beide aktuell remastert von Barry Grint). Die Band um Sänger Rolf „Rock’n’Roll“ Kasparek ballerte im Stile von Judas Priest und Co gegen Autoritäten und Spaßbremsen an, streifte textlich auch mal historische Themen, ohne das Publikum mit zu vielen Differenzierungen zu nerven. Die Band um Lead Guitarist Michael Kupper hält sich auch nicht mit besonderer Komplexität auf. Ebenfalls auf limitiertem Vinyl – diesmal knallrot – erschien jetzt die 1991 neu aufgenommene „Early Years Compilation: The First Years Of Piracy“.
Hard Rock
Winter
Looking Back
Winterzeit/Soulfood (Einfachcover, bedruckte Innenhülle)
Gemeinhin steckt man den Multiinstrumentalisten und Sänger Markus Winter in die Gothic-Ecke. Doch der Sampler mit Aufnahmen aus den Jahren 2088 bis 2019 geht auch als Hardrock durch, in „Heartbreak Road“ klingen sogar ZZ Top an, in anderen Titeln Wave-Pop à la Sisters of Mercy. Wenn es zu düster wird, kommt garantiert ein aufhellender Refrain. Die zwölf Tracks von den zum Teil nicht mehr lieferbaren drei frühen Platten mischte Aki Sihvonen in den Finnvox Studios neu ab, was den Sound durchgehend schön zeitgemäß fett macht. Winter holte sich einzig für die Drums und spezielle Keyboards fremde Unterstützung, ansonsten spielte er alle Instrumente selbst. Nicht weltbewegend, aber ok.
Violine solo
Johann Sebastian Bach
Sonaten und Partiten für Violine
Emil Telmányi, vi
Analogphonic/Sieveking (3 LPs einzeln verp. in Schuber)
Mit dem deutschen Barockbögen nachgebauten „Vega“Bach-Bogen des Geigenbauers Knud Vestergard spielte der ungarische Geiger und Dirigent Emil Telmányi (1892–1988) in den Jahren 1953/54 Bachs „Altes Testament“ für Geige solo ein. Im Gegensatz zum heute üblichen „italienischen“ Bogen erlaubt der Vega akkordisches Spiel über alle vier Saiten, was auch bei der berühmten Chaconne aus der zweiten Partita für eine völlig neue Hörerfahrung sorgt, wenn man die harten Arpeggios fast aller Referenzen im Ohr hat: weniger tänzerisch, mehr polyphone Raffinesse, von Telmányi mit viel Bindungen zelebriert. Die Restaurierung der monauralen „Full Frequency Range Recordings“ ist hervorragend gelungen.