... Ulrike sagt: weder eine Mulde noch eine Kuppe, weder nach Süden noch nach Norden exponiert. Exakt auf 1675 Meter Höhe über dem Meer, auf dem Gebiet der Gemeinde Schröcken. Am Berg kann das anders aussehen, da kommt der Wind dazu, der gerade als Ostwind gefährliche Wechten auftürmen kann, selbst bei relativ wenig Schnee. Die Pflege der Schneemessstation ist Familiensache, wie das Hotel, das der Großvater 1930 gegründet hat; 2007 wurde neu und komfortabler gebaut, aber immer noch in idyllischer Alleinlage am See. Vater Fritz Schlierenzauer begann mit der Messreihe für den Lawinenwarndienst, seit 1980 wird sie lückenlos und detailliert geführt.
Der Ablauf ist eingespielt: Zuerst misst Ulrike mit einem Stab die Einsinktiefe, die über den Schneeaufbau erzählt, ein ganz wichtiger Parameter für die Stabilität der Schneeschicht und damit die Schneebrett- oder Lawinengefahr. Dann mit einem Thermometer die Schneetemperatur, genau in zehn Zentimeter Tiefe: Ein halbes Grad minus betrug sie heute morgen. Im März beispielsweise, wenn sich oben eine Firnschneedecke gebildet hat, kann es darunter wärmer sein. Dann folgt der neu gefallene Schnee, so welcher dazugekommen ist – und zuletzt der Gesamtschneepegel: ein Wert, der die Skifahrer besonders interessiert. Gerade jetzt Mitte Januar sind es magere 94 Zentimeter, es könnten auch drei oder vier Meter sein. Die maximale Schneehöhe liegt im langjährigen Mittel bei 239 Zentimetern.
Insgesamt fallen hier im hinteren Bregenzerwald rund elf Meter Schnee – über die gesamte Saison. Warth-Schröcken gilt, zusammen mit Damüls, als absolutes Schneeloch. Bis vor wenigen Jahren gab es im Skigebiet keinerlei künstliche Beschneiung, inzwischen wurde sie für kritische Stellen installiert. Denn die Schneehöhen variieren stark: 2013/14 fielen insgesamt nur knapp sechs Meter, 2018/19 mit 12,43 Metern mehr als doppelt so viel. Was sich bereits im Januar abzeichnet: Auch der Winter 2021/22 wird weit unter den Rekorden zurückbleiben; 7,3 Meter sind es insgesamt geworden. Das sieht man an den sommerlichen Pegeln des Bodensees: Kiesstrände erstreckten sich da, wo sonst Boote dümpeln. Denn wir sind in Schröcken noch vor der Wasserscheide, die am Hochtannberg liegt. Die Bregenzer Ach entwässert über den vorderen Bregenzerwald in den Bodensee. Genau wie der Alpenrhein, der ebenfalls zu wenig Schmelzwasser führen wird. Der Zusammenhang ist klar ersichtlich: Zu wenig Schnee im Winter bedeutet zu wenig Wasser im Sommer.
Idylle abseits der Pisten
Ruhig ist es bei unserem Treffen im Januar 2022 am Körbersee, noch herrscht Vorsicht wegen der Pandemie. Doch die frische Luft und die Sonne stärken die Zuversicht und heben die Laune: Jeder Spaziergänger, der vorüberkommt, hat ein paar freundliche Worte. Auch Barry freut sich über jede Begegnung und den Auslauf am frühen Nachmittag. Er ist übrigens der Sechste seiner Reihe, stets war im Hotel ein „Barry“ zu Hause. Das Berghotel wird von Naturfreunden geschätzt: Nur mit den Skiern oder zu Fuß ist es zu erreichen, allein das Gepäck darf mit dem Ma teriallift fahren. Eine Ausnahmegenehmigung hat auch Ulrikes kleiner Sohn, der damit zur Schule kommt. Auch im Sommer ein beliebtes Wanderziel: Im Körbersee, der unter der Schneedecke kaum zu erkennen ist, kann man dann baden. Sehr erfrischend, wie wir vor etlichen Jahren an einem heißen Tag erkundet haben. Kaum vorstellbar jetzt im Januar. Wir freuen uns über die freie Zeit und den Rückweg – auf dem gut gewalzten Winterwanderweg geht es zurück zum Hochtannbergpass. Am Nachmittag liegt der Weg noch wunderbar in der Sonne, Bänkchen hart am Abhang säumen die Spur. Die Schatten werden länger, doch wir nehmen uns Zeit, malen Figuren in den Schnee und genießen die Aussicht hinüber zum Widderstein. Welcher Kontrast zum Trubel am Hochtannbergpass. Hier starten die Tagesgäste ins Skigebiet, über den Saloberkopf kann man seit etlichen Jahren auch hinüber zum Arlberg gelangen. An schönen Tagen macht der Ausflug Freude. Sanft schwebt die Gondel des Auenfeldjets bis nach Oberlech: Über ein nahezu unberührtes weites Tal, durch das nur eine Skitour führt, ein Trampelpfad statt Pisten, sodass der Schnee bizarre Windskulpturen formen kann. Überhänge und weiche Wellen sind zu erkennen. In Oberlech geht es mondäner zu, ein anderes Klientel als im Bregenzerwald fühlt sich hier wohl. Genügend Zeit für den Rückweg sollte man in jedem Fall einkalkulieren.
Am Nachmittag liegt der Weg noch wunderbar in der Sonne, Bänkchen hart am Abhang säumen die Spur. Die Schatten werden länger, doch wir nehmen uns Zeit, malen Figuren in den Schnee und genießen die Aussicht hinüber zum Widderstein.
Kinderspaß mit Pauli
Am Abend treffen wir Marcel Fetz, den Leiter der kleineren von zwei Skischulen in Warth. Gemütlich sitzen wir an der Bar des Hotels „Biberkopf“, das gerade neu eröffnet hat. Durch den Skikeller gelangt man direkt zur Dorfbahn Warth und damit direkt ins Skigebiet. Bequemer geht es kaum. Marcel erzählt von den Kinderskikursen und seiner Schneesportschule Warth-Arlberg. Etwa 20 Skilehrer hat er beschäftigt, in dieser Saison sind sie wieder aktiv. Sorgfältig werden die Gruppen eingeteilt: Am ersten Tag kann noch getauscht werden, bis sich alle wohlfühlen. Beim gemeinsamen Mittagessen zahlen die Kinder bargeldlos mit ihren „Pauli-Talern“ – ein Höhepunkt des Tages. Pauli ist das Maskottchen des Gebiets. Jeder Tag ein neues Abenteuer, bis hin zum Abschlussrennen am Ende der Skiwoche. Zuletzt übergibt der Skilehrer die Medaille und macht ein Foto. Marcel ist glücklich, wieder arbeiten zu dürfen. Doch auch dem Winter 2020/21 kann er Gutes abgewinnen. Statt mit Skischulkindern war er mit seinen eigenen Jungs unterwegs, die dadurch treffliche Fortschritte erzielen konnten. Gerade räumten sie bei einem Rennen erste Plätze ab, berichtet er fröhlich. Zahlreiche Weltklasse-Skifahrer kommen aus Warth, Johannes Strolz beispielsweise. Wie sein Vater Hubert 1988 in Calgary wurde er 2022 Olympiasieger in der Kombination. Für seine Skikurse sei das Skigebiet Warth-Schröcken mit seinen 62 Kilometern absolut groß genug, meint Marcel. Schneesicher dazu, denn bis ins Frühjahr hinein lässt sich an den Nordhängen gut Ski fahren. Doch man muss gar nicht Ski laufen, wenn man nicht mag: Winterwandern oder Rodeln, Wellness oder wohltuendes Nichtstun, alles ist hier möglich. Wir spazieren am nächsten Morgen in einer großen Runde einmal um Warth herum, schauen oben am Ausstieg der Dorfbahn vier Jungs zu, die sich mit Juhu die Rodelpiste hinunterstürzen und plaudern mit dem Liftmann.
Barockbaumeister in Au
Schon sind die freien Tage wieder vorbei, hier oben in der Welt der Berge und des Schnees, der so unterschiedlich fällt – aber garantiert immer. Einen schneelosen Winter kann man sich nicht vorstellen, wobei die weiße Pracht noch vor zwei Generationen eher Fluch als Segen war. Die Lawinengefahr war stets präsent, etliche Warther wurden schon „verlawint“. Wer gerettet wurde, kann davon erzählen, wie der Seniorchef vom „Warther Hof“: Die Straße war schmal, die Fahrt gefährlich, aber man brauchte Nachschub an Lebensmitteln. Doch die Lawine kam und begrub ihn unter den Schneemassen. Bei einem allerletzten Suchgang mit der Sonde habe man ihn gefunden, das Auto erst im Frühjahr. Daran müssen wir denken, als wir zurück über den Hochtannbergpass und die steilen Serpentinen hinunter ins Tal fahren. Heute sind die Straßen gut geschützt: teils mit Galerien und massiven Lawinenverbauungen am Hang. Bereits in Schoppenau wirkt der Bregenzerwald geradezu lieblich, nach der schroff alpinen Szenerie oberhalb der Baumgrenze. Ein alter Mann führt seine Geiß spazieren, der freundliche Laden der Sennerei hält alles bereit, was der Mensch begehrt. Mehr als Bergkäse und Butter, auch feine Marmeladen und kulinarische Mitbringsel für die Nachbarn.
In Au-Rehmen wartet ein letzter Höhepunkt der Reise: das neu eröffnete Museum der Barockbaumeister. Bernadette Rüscher führt herum, erklärt das alte Haus, das über drei Jahre mustergültig renoviert wurde, mit 90 Prozent Handwerkern aus dem Bregenzerwald. Sie erläutert die Zunft, bereits 1657 gegründet, mit fortschrittlichen Regeln für alle Mitglieder und Absicherung selbst für die Familien derselben, sie zeigt die Prunkstücke wie die Zunftlade, die bis heute in Gebrauch ist. Wenn neue Meister ausgerufen werden, kommt sie zum Einsatz. Steinmetze, Maurer und Zimmermänner arbeiteten zusammen, und sie errichteten Barockkirchen und Klöster, „vom Keller bis zum Turm, alles aus einer Hand“, wie sie sagt. Das Kloster Engelberg beispielsweise, in sieben Jahren komplett erbaut. Die Stiftskirche in St. Gallen, heute UNESCO-Welterbe, die berühmte Barockkirche Birnau am Bodensee. Da kann man sich kaum trennen, so viel gibt es zu studieren. Und als man doch wieder vom heimeligen Tannenholz hinaus ins Freie tritt, staunt man über den Schnee: Ach ja, es ist Winter!
Doris Burger