... bearbeitet. Der Standard war damals, in allen Ansprachen oder Anschreiben beide Geschlechter zu erwähnen – also beispielsweise »Schülerinnen und Schüler« zu verwenden. Hat sich im Bereich der geschlechtersensiblen Lehramtsausbildung in den letzten 20 Jahren etwas bewegt, oder tritt das System Schule in diesem Bereich auf der Stelle?
Geschlechtersensibilität im Curriculum der Pädagogischen Hochschule?
Bei der Durchsicht des Curriculums »Bachelorstudium Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung« der Pädagogischen Hochschule Kärnten in Kooperation mit der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt findet man Hinweise auf die Auseinandersetzung mit geschlechterspezifischen Themen in zwei Modulen:
In dem Modul »Schulentwicklung und Bildungssystem im Wandel« wird das gebundene Wahlfach »Gender Studies beziehungsweise Frauenund Geschlechterforschung« als eines von dreien zur Auswahl angeboten. Die Studierenden verfügen nach Abschluss des Moduls »in ausgewählten Bereichen kultureller, ethnischer, religiöser, alters-, geschlechts- und sprachbezogener sowie begabungsund behinderungsbezogener Diversität über vertiefte wissenschaftliche Kenntnisse, die sie befähigen, SchülerInnen gemäß deren jeweiligen Möglichkeiten auf inklusive Weise angemessen zu fördern« (Curriculum Bachelorstudium Sekundarstufe Allgemeinbildung, S. 20).
In dem Modul »LehrerInnenberuf als Profession« sucht man vergeblich nach einer eigenen Lehrveranstaltung, jedoch wird man bei den intendierten Lernergebnissen fündig. »Die AbsolventInnen des Moduls wissen um kulturelle, ethnische, religiöse, alters-, geschlechts- und sprachbezogene, begabungs- und behinderungsbezogene Diversität und um die Gefahr stereotyper Zuschreibungen und können auf der Basis von Modellen und Theorien Inklusiver Pädagogik deren Bedeutung für professionelles pädagogisches Handeln diskutieren« (a. a. O., S. 18).
Von einer Anerkennung der Vielgeschlechtlichkeit ist man in im Lehramtsstudium noch weit entfernt.
Der Umstand, dass in der angebotenen Lehrveranstaltung sowie den intendierten Lernergebnissen eines Moduls die geschlechtsbezogene Diversität gemeinsam mit kulturellen, ethnischen, alters- und sprachbezogener sowie religiöser Unterschiede gelehrt und gelernt wird, beschreibt dessen Stellenwert sehr gut. Wenn man allerdings die biologische Entwicklung des Kindes im Alter der Sekundarstufe, also der Zehn- bis 14-Jährigen, betrachtet, bemerkt auch ein Laie, dass es sich um eine geschlechtssensible Altersspanne handelt, die besonderes Augenmerk verlangt. In der Pubertät kommt es zum Wachstum der sekundären Geschlechtsorgane und erhöhter Aus- schüttung von Hypophysenhormonen. Nicht zuletzt beginnt in der Pubertät die Ausbildung der Identität, indem der oder die Jugendliche auch ihre oder seine Geschlechterrolle ausbildet und akzeptiert (vgl. www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de). Gerade darum handelt es sich in der Sekundarstufe I um ein hochsensibles Alter in der Ausbildung des eigenen Geschlechts und der eigenen Identitätsfindung. Umso fahrlässiger ist es, diese schwierige Phase der Identitätsfindung in der Lehramtsausbildung derart zu vernachlässigen.
Erfahrungen von Lehramtsstudierenden
Bezugnehmend auf das Curriculum habe ich aktuelle Lehramtsstudenten und -studentinnen zu der Thematik befragt. Sie haben das Bachelorstudium bereits absolviert, befinden sich im Masterstudium und berichteten einhellig, dass die Geschlechtersensibilität in den Seminaren des Bachelorstudiums eine nebensächliche Rolle spielt. Sollten geschlechtsspezifische Themen in den Seminaren besprochen worden sein, so wurde der Fokus immer auf das Vorhandensein von stereotypen Darstellungen in Schulbüchern gelegt. Dies ist zwar ein guter Ansatz zur Sensibilisierung von Lehramtsstudierenden, jedoch hat dieser meist die Zweigeschlechtlichkeit im Hintergrund – was ist typisch Mann oder typisch Frau? Von einer Anerkennung der Vielgeschlechtlichkeit ist man in diesem Studienbereich anscheinend noch weit entfernt. Doch Vorsicht: Eine Befragung von insgesamt sieben Junglehrerinnen und Junglehrern stellt sicherlich keine aussagekräftige wissenschaftliche Untersuchung dar, bietet aber doch einen ersten Einblick in die Thematik.
Eine Ursache, warum die Geschlechtersensibilität in der Lehramtsausbildung bislang offenbar vielerorts lediglich oberflächlich behandelt wird, könnte in einer Empfehlung der Europäischen Union liegen. Der Europarat hat – ausgehend von der Hochschulreform (Bologna-Reform 1999) und den PISA-Studien seit Anfang des Jahrtausends –eine Empfehlung für die Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen ausgegeben. Weder in der Erstausgabe der Empfehlungen von 2006 noch in der Überarbeitung von 2018 wird die Gender-Kompetenz in den acht Schlüsselkompetenzen erwähnt (vgl. Onnen 2015, S. 86). Durch die Kenntnis dieser Rahmenvorgaben wird das Fehlen der Gender-Kompetenz in der Lehramtsausbildung zwar verständlicher, doch zugleich erstaunt diese Lücke, da die Gender-Bewegung bereits in den 1960er-Jahren Fahrt aufnahm. In der Bildungsforschung herrscht Einigkeit darüber, dass Geschlecht sozial konstruiert wird. Aus diesem Grund führt ein unreflektierter koedukativer Unterricht tendenziell zu einer formalen Benachteiligung von Mädchen im Bildungssystem (vgl. Onnen 2015, S. 86). Wichtig ist, dass die pädagogische Haltung jeder Lehrkraft eindrückliche Spuren beim Schulkind hinterlässt. Insofern ist es wichtig, dass Lehrpersonen gerade in einem koedukativen Unterricht eine respektvolle geschlechtersensible Haltung entwickeln und auch zeigen (vgl. Manz 2015, S. 103).
In der Bildungsforschung herrscht Einigkeit darüber, dass Geschlecht sozial konstruiert wird.
Eine solche Haltung könnte und sollte von den Universitäten und Hochschulen bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung gezielt gefördert werden. Sie sind zwar grundsätzlich an die Vorgaben des Ministeriums gebunden, können aber bei der Gestaltung des Studienangebots doch vieles autark entscheiden. Deshalb könnte die wichtige Geschlechtersensibilität im Lehramtsstudium intensiver betrachtet werden, wenn dies vonseiten der Lehrenden gewollt wäre.
Der »heimliche Lehrplan«
Besonders verwunderlich ist der Umstand, dass keiner der befragten Lehramtsstudierenden schon einmal etwas vom »heimlichen Lehrplan« gehört
hat. Der Begriff wurde bereits in der Reformpädagogik Anfang des letzten Jahrhunderts geprägt. Er beschreibt die sozialen Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern im Klassenzimmer. In den 1960er-Jahren wurde der Begriff weiterentwickelt und beinhaltet seither auch die geschlechtsspezifischen Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern in der Schule. Hier werden besonders vier Aspekte hervorgehoben:
1. Lehrmaterialien sind nicht geschlechtsneutral.
2. Die Vermittlung und Präsentation der Lehrinhalte sind nicht geschlechtsneutral.
3. Lehrkräfte haben geschlechtsspezifisch unterschiedliche Leistungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler.
4. Der Schulalltag konfrontiert die Kinder von Beginn an mit Hierarchien zwischen den Geschlechtern, wie z. B. einem hohen Anteil von Frauen als Lehrkräfte und im Gegensatz dazu ihr geringer Anteil in Leitungspositionen (vgl. Onnen 2015, S. 89 f.).
Besonders der letzte Aspekt trifft mehr denn je zu. Im Bundesland Kärnten gab es im Schuljahr 2017/18 im Bereich der Allgemeinbildenden Schulen über alle Schulformen hinweg fast 80 Prozent weibliche Lehrpersonen. An den Volksschulen waren knapp 90 Prozent aller Lehrpersonen im Bundesland weiblich. Eine Diskrepanz gibt es in der hier besprochenen Sekundarstufe I. Der Anteil von weiblichen Lehrpersonen lag in den Neuen Mittelschulen bei 76 Prozent, an den AHS-Unterstufen jedoch lediglich bei 64 Prozent (vgl. Statistisches Taschenbuch 2018, S. 44). Zum geringen Anteil von Frauen in Führungspositionen gibt es leider im österreichischen Schulwesen keine Statistik.
Die Unterrichtsmaterialien sind heute weniger von Stereotypen geprägt wie zu Beginn des Jahrtausends. Es werden sogar in Mathematikbüchern gleichgeschlechtliche Paare beschrieben, ebenso wie Namen von Zuwanderern verwendet werden. Dennoch gibt es noch einige Bücher, die sich in den letzten Jahren in die- ser Hinsicht nicht verändert haben. Lehrpersonen, welche seit 30 oder mehr Jahren im Dienst sind, haben nicht nur viel Erfahrung und Wissen in der Lehre vorzuweisen. Die meisten von ihnen arbeiten noch mit Kopien aus den letzten Jahrzehnten, weil sie die Bücher von heute aus diversen Gründen nicht verwenden wollen. Bei manchen dieser Lehrerinnen und Lehrer geht das nicht geschlechtsneutrale Unterrichtsmaterial vermutlich direkt in die nicht geschlechtsneutrale Vermittlung des Lehrstoffs über. Den »heimlichen Lehrplan«, der in der Reformpädagogik zu Recht beschrieben und kritisiert worden ist, gibt es auch heute noch, zumindest in abgemilderter Form. Lehramtsstudierende werden von Beginn des Studiums an mit diesen Stereotypen in den Schulbüchern oder der Schulverwaltung konfrontiert, jedoch wird ihnen der geschlechtersensible, selbstkritische Umgang damit nicht ausreichend nahegebracht. Von einer gendersensiblen Didaktik sind wir noch weit entfernt.
Von einer gendersensiblen Didaktik sind wir noch weit entfernt.
Gender-Kompetenz bei Lehrenden
Die Voraussetzung für die Umsetzung einer gendersensiblen Didaktik ist, dass Lehrende selbst über Gender-Kompetenzen verfügen. Diese Kompetenzen setzen aber neben dem Gender-Wissen auch ein reflektiertes Gender-Bewusstsein jedes Einzelnen voraus (vgl. Onnen 2015, S. 92 ff.). Damit man der Vielfalt der Gesellschaft begegnen kann, muss diese zunächst einmal wahrgenommen werden. Onnen verwendet dabei als Metapher die sogenannte Gender-Brille, die einen Gender-Blick ermöglicht. Lehrkräfte müssen sich dazu in einem ersten Schritt mit ihrer eigenen Geschlechtersozialisation auseinandersetzen und die Fähigkeit entwickeln, die eigenen Unterrichtsmethoden, -materialien und -inhalte auf ihre Geschlechtersensibilität zu prüfen. Erst wenn dies geschieht, können Lehrkräfte ihre didaktischen Instrumente geschlechtersensibel und gerecht anwenden. Um auch dem gesellschaftlichen Anspruch nachzukommen, die Lernziele für die Schülerinnen und Schüler geschlechtergerecht aufzubereiten, müssen Lehrkräfte insbesondere ihre didaktischen Instrumente so anwenden können, dass diese allen Lernenden zugutekommen. Besonders die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) waren in den letzten Jahren mit dem Vorwurf der Geschlechterblindheit konfrontiert. In diesen Fächern könnte durch die Anwendung reflektierter Methoden eine Erweiterung der Lernprozesse erreicht werden (vgl. Onnen 2015, S. 93 f.).
Auch Helene Götschel (2015, S. 491 f.) ist der Ansicht, dass sich angehende Lehrkräfte mit der eigenen Einstellung und Vorstellung von Geschlecht auseinandersetzen müssen, um gesellschaftlich verbreitete Vorstellungen von vermeintlich unnatürlichen Sexualitäten oder technikfernen Mädchen nicht länger unbewusst an weitere Generationen weiterzugeben. Bei Götschel spielt auch die größere Geschlechtervielfalt eine Rolle, doch kommt sie zu dem gleichen Schluss wie Onnen: Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtersozialisation können angehende Lehrkräfte dazu befähigt werden, eine größere Geschlechtervielfalt wahrzunehmen, hierfür eine größere Sensibilität zu entwickeln und in ihren Unterricht zu übertragen.
Wenn man die Grundlagen für einen geschlechtersensiblen Unterricht von Onnen und Götschel mit den Schlüsselkompetenzen der Europäischen Union und dem Curriculum der Pädagogischen Hochschule Kärnten (in Kooperation mit der Alpen-Adria-Universität) vergleicht, so muss man feststellen, dass die geschlechtersensible Lehramtsausbildung bislang drastisch vernachlässigt wird. Wenn die Aufdeckung und Beachtung von stereotypen Denkmustern in Büchern und Unterricht den einzigen Zugang zur Geschlechtersensibilität bildet, gibt es noch Aufholbedarf – und das in mehreren Bereichen.
Die Studentinnen und Studenten müssen zuerst ein Gender-Wissen aufbauen. Welche aktuellen Erkenntnisse gibt es in der Gender-Forschung, pädagogik,-soziologie und -psychologie? Mit diesem Wissen muss die angehende Lehrkraft die eigene Geschlechterrolle sowie die eigene Haltung zu verschiedenen Geschlechteridentitäten reflektieren. Diese Selbstreflexion sollte angeleitet werden, da sie erfahrungsgemäß oft zu einer Überforderung führt. Manz (2015, S. 114) schlägt dazu methodische Werkzeuge wie die kollegiale Beratung oder das Führen eines thematischen Tagebuchs an. Auch das Teamteaching empfiehlt er als zusätzliche Möglichkeit der gegenseitigen Beratung und Kritik. Meine Erfahrung als Schulleiter zeigt, dass beim Teamteaching eine Vermischung der Geschlechter förderlich ist – dies ist auch in die kollegiale Beratung zu übertragen. Allerdings ist dies schwierig umzusetzen, da es in Österreich in der Sekundarstufe I im Schnitt 70 Prozent weibliche Lehrkräfte gibt.
Wenn sich die Studierenden im ersten Schritt das Gender-Wissen angeeignet und im zweiten Schritt ihre eigene Einstellung dazu reflektiert haben, geht es im dritten Schritt um die Umsetzung in der täglichen Arbeit als Lehrkraft. Bewusst wird hier nicht die Umsetzung im Unterricht genannt, weil dies nur ein Teil der Gesamtarbeit einer Lehrkraft ist. Den Großteil der Aufgaben einer Lehrkraft stellt die Beziehungsarbeit dar – und diese findet nicht (oder nur zu einem kleinen Teil) im Unterricht statt.
Zusammenfassend kann man die Frage, ob die Lehramtsausbildung für die Sekundarstufe I geschlechtersensibel ausgerichtet ist, mit einem »Nein mit Einschränkungen« beantworten. Wenn sich eine Lehramtsstudentin oder ein Lehramtsstudent für das Thema interessiert, kann man dazu an vielen Universitäten und Hochschulen ein gebundenes Wahlfach (ein Fach aus einem fachspezifischen Themenpool) belegen und sich einen guten Überblick verschaffen. Wenn man sich als angehende Lehr- kraft nicht für das – aus meiner Sicht äußerst wichtige – Thema interessiert, bleibt es bei den Informationen zu stereotypen Darstellungen in Schulbüchern. Dieser Umstand erfordert zwingend eine Nachschärfung des Curriculums für die Lehramtsausbildung der Sekundarstufe I – Allgemeinbildung. ■
Michael Eder (BEd.) ist Schulleiter einer Mittelschule mit sportlichem Schwerpunkt in Villach, Kärnten. mi.eder@gmx.net
Literatur
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung: Statistisches Taschenbuch– Schule und Erwachsenenbildung 2018. Curriculum Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung (ab 2019). www.ph-kaernten.ac.at/ ausbildung/lehramtsstudien/lehramt-sekundarstufe-ab/bachelorstudium-sekab/ [Zugriff am: 02.02.2021].
Fegert, Jörg: Pubertät und Adoleszenz: Körperliche und psychosoziale Reifung. www. neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend- psychiatrie/warnzeichen/adoleszenz-adoleszenzkrisen/pubertaet-und-adoleszenz/ [Zugriff am: 03.02.2021].
Götschel, Helene (2015): Geschlechtervielfalt in der Lehramtsausbildung. In: Wedl, Juliette/Bartsch, Annette (2015): Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: transcript, S. 489–516.
Manz, Konrad (2015): Geschlechterreflektierende Haltung in der Schule. In: Wedl, Juliette/ Bartsch, Annette (2015): Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: transcript, S. 103–118.
Onnen, Corinna (2015): Studying Gender to Teach Gender. Zur Vermittlung von Gender-Kompetenzen. In: Wedl, Juliette/Bartsch, Annette (2015): Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: transcript, S. 83–102.