... sind. Kein graues Haar ist zu sehen, auch nicht bei den älteren Frauen. Währenddessen sind zahlreiche Smartphones auf sie gerichtet, die sie ablichten. Dabei, wie die Dorfbewohnerinnen ihre Haare sorgsam eindrehen und auf dem Kopf zu einem kunstvollen Knoten formen. Wie sie Tänze aufführen. Und danach um Trinkgeld bitten.
Hier, im Süden Chinas, rund 700 Kilometer nordwestlich von Hongkong, führen die Einheimischen dieses Ritual mehrmals täglich auf. Ein intimer Moment, einst für den Ehemann bestimmt und tief verwurzelt in der Kultur der Yao-Frauen, die in Huangluo leben, dem Dorf der Langhaarfrauen. Symbolisch steht die wallende Haarpracht für Reichtum und Langlebigkeit. Inzwischen bedeutet sie tatsächlich materiellen Gewinn – aufgrund der vielen Touristen, die die Tradition zu barem Geld machen. „Wer hier lebt, muss lange Haare haben, damit die Touristen kommen“, sagt Pan Jifeng in der Dokumentation „Das Dorf der Langhaarfrauen“, die ARTE im Mai ausstrahlt. „Hätte ich kurze Haare, könnte ich kein Geld verdienen“, ergänzt sie.
Seit Jahrhunderten leben die Yao in Huangluo, verborgen in der Bergwelt, inmitten der berühmtesten Reisterrassen Chinas: den Drachenrücken. Die Frauen der Yao-Minderheit haben die längsten Haare der Welt, wie ein Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde belegt. Sowohl die Yao aus Huangluo als auch die chinesische Volksgruppe Miao aus den umliegenden Dörfern der Provinzen Guangxi und Guizhou legen großen Wert auf ihre Haare. Die Yao-Frauen glauben, dass in den Haarsträhnen ihre Ahnen weiterleben. Nur ein einziges Mal, zum 18. Geburtstag, wird den Mädchen die schwarze Pracht abgeschnitten – als Zeichen für das Ende ihrer Jugend.
1 Familienrezepte: Auf offenem Feuer kochen Yao-Frauen wie Pan Jifeng Tee und auch ihr traditionelles Reiswasser-Shampoo. Industriell gefertigte Produkte lehnen sie ab
2 Handarbeit: Die Frauen aus Huangluo weben ihre Kleidung selbst. Diese Tradition geben sie auch an ihre Kinder weiter
3 Farbenfroh: Gun Neijin vom Volk der Miao trägt die traditionelle Tracht rund um die Uhr – auch beim Kochen des Schweinefutters, so wie hier
»Als die Schere meine Haare durchschnitt, musste ich weinen. Ab jenem Tag war ich erwachsen«
Pan Yankuei,32, Bewohnerin von Huangluo
Die 32-jährige Pan Yankuei erinnert sich: „Als die Schere meine Haare durchschnitt, musste ich weinen, denn ab dem Tag ist man erwachsen und muss seine Eltern verlassen. Eigentlich will ich mich nicht an diesen Moment erinnern.“ Ihren Zopf hat sie wie alle anderen Frauen aufgehoben. Er wird eingewoben in den kunstvollen Knoten, den die Yao-Frauen im Laufe der Jahre wie selbstverständlich, ohne Spiegel, selbst stecken: den ersten Zopf direkt aus dem Kopfselbst Kopfhaar, verbunden mit dem zweiten, der mit 18 Jahren abgeschnitten wurde, und dem dritten, gebildet aus den Haaren, die beim Kämmen herausgefallen sind. Hat eine Frau ein Kind, trägt sie den Knoten vorn auf dem Kopf. Die meisten haben Haare, die 1,60 Meter und länger sind. Bis zu 2,10 Meter sind die längsten im Dorf.
Bedeutend mehr Zeit als das Zurechtlegen der Frisur nimmt die Pflege in Anspruch: Das Geheimrezept für die pechschwarzen Haare, die angeblich auch im Alter nicht ergrauen, ist das Wasser, das beim Waschen vom Reis übrig bleibt. Warum Reiswasser eine solche Wirkung auf Haare hat, ist bis heute wissenschaftlich nicht eindeutig ergründet. Forscher vermuten unter anderem einen Zusammenhang mit dem enthaltenen Inositol, das die Haare kräftigt.
Die 44-jährige Su Zujiao, die ebenfalls in der ARTEDokumentation zu sehen ist, kocht das Reiswasser über dem offenen Feuer auf. „Statt normalem Shampoo nutzen wir Reiswasser. So haben es schon Generationen vor uns gemacht, und so machen wir es auch“, erklärt sie. Die Reisbäuerin vermengt das Wasser mit Pomeloschale und Bergkräutern. Welche, verrät sie nicht, denn das Rezept ist geheim. 20 Minuten lassen die Yao-Frauen das Shampoo einwirken, danach spülen sie es mit klarem Wasser aus. Auf diese Tradition schworen schon die Prinzessinnen der Ming-Dynastie.
Dass das Pflegen und Kämmen zur Touristenattraktion geworden ist, liegt am wachsenden Interesse der einheimischen und internationalen Besucher. „Vor 20 Jahren habe ich mir mit Freundinnen die Haarkämm-Show ausgedacht“, erklärt Pan Jifeng. Da immer mehr Touristen kamen, bauten sie ein Theater für die Shows. Inzwischen werden in der Hochsaison pro Woche rund 14.000 Besucher durchgeschleust. Die Frauen sind geschäftstüchtig – sie nehmen alles selbst in die Hand, um der Armut zu entkommen. Die meisten haben keine Schule besucht, die Shows sind für sie die einzige Einnahmequelle. Allein vom Reisanbau können sie nicht leben, also setzen sie auf Hotels, Souvenirläden, Traditionen. Sie wissen, wie es eine von ihnen formuliert: „Nur gemeinsam können wir es schaffen.“
4 Ritual: Der zehnjährige Gun Jindiu hat einen klassischen Miao-Haarschnitt bekommen – den Hu Gun. Die Rasur ist etwas schmerzhaft. Der verbleibende Zopf steht für den Baum des Lebens und ist Ausdruck der Naturverbundenheit
Die rund drei Millionen Yao, die heute in China leben, wurden bis in die 1980er Jahre von der kommunistischen Partei unterdrückt. Mit der Öffnung des Landes begann man in den Bergdörfern, den Tourismus zu entwickeln. Dafür beauftragte die Regierung die Einwohner, verschiedene Shows zu kreieren. Doch nicht alle fühlen sich mit den Traditionen vertraut, die sie Touristen vorführen. Ein Mann aus einem der Bergdörfer erzählt: „Die Regierung bemüht sich darum, die traditionellen Kulturen zu vermarkten. Aber meine Generation weiß kaum noch etwas darüber.“
Dass Althergebrachtes vor allem für die gehobene Altersklasse wichtig sind, zeigt der Wille der Mütter: Sie geben ihren Töchtern neben der Haarpflege auch das Weben und Sticken der Tracht weiter. Doch nicht alle Jüngeren sind dafür offen, etwa die 32-jährige Pan Yankuei: „In meiner Generation hat sich vieles verändert. Ich habe Sehnsucht nach einer größeren Stadt. Im Dorf fühle ich mich sehr eingeschränkt.“ Die älteren Frauen hingegen sind glücklich, mit Tourismus ihren Unterhalt verdienen zu können. „Wie könnte ich ohne meine langen Haare überleben?“, fragt Reisbäuerin Pan Jifeng. Viele in den Bergdörfern können sich noch gut an die einstigen schlechten Zeiten erinnern. Als die 52-Jährige behutsam den Reis unter dem Wasserhahn wäscht, erzählt sie vom Hunger, den sie aus ihrer Kindheit kennt und nie wieder erleben will. Und so kämmen die Yao-Frauen ihre Haare weiter, vor den Touristen, bis zu 20 Mal am Tag.
FOTOS: THOMAS BRESINSKY / MEDEA FILM / ZDF (3), VCG / GETTY IMAGES