Mark Rothko entstammte dem Judentum, das aus Respekt vor Gottes Gebot „Du sollst dir kein Kultbild machen“ (Ex 20, 4; vgl. Dtn 4, 16–18) Gott nicht abbildet und auch Menschen und Tiere nicht in Bilder fasst (es gab Ausnahmen, wie zum Beispiel die Synagoge in Dura Europos am Euphrat aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. zeigt). Das Christentum ist schon früh andere Wege gegangen. Da sich die zweite göttliche Person in Jesus von Nazaret inkarniert hat (vgl. Joh 1, 14: „Und das Wort ist Fleisch geworden“), kann Jesus von Nazaret abgebildet und damit versucht werden, die Göttlichkeit in ihm auszudrücken. Dies versucht die christliche Kunst schon seit dem 3. Jahrhundert, als man begann, die rein symbolische Darstellung Christi (Fisch, Lamm, Christusmonogramm) zu verlassen und ihn in der Personifizierung des guten Hirten darzustellen, ab dem 4. Jahrhundert dann im bis heute gebräuchlichen klassischen Christusbild mit langen Haaren und Bart.
Abstrakte Malerei
Rothko folgte wie gesagt der Spur seines jüdischen Erbes, wenn er nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in eine Schaffenskrise geriet und sich danach der Abstraktion zuwandte. Man kann abstrakte Malerei als rein geometrische Kunst gestalten, der keine religiöse Bedeutung übergestülpt werden kann (diese abstrakte Kunst verkörpert zum Beispiel Kasimir Malewitsch). Natürlich ist nicht jede abstrakte Malerei von sich aus religiös. Aber ohne Zweifel ist die Loslösung von jeglichen gegenständlichen Formen auch ein Schritt von der Ebene der materiellen Gebundenheit zur Ebene des Geistes. Ab 1910 setzte dieser Versuch der Künstler ein, den im Menschen ertönenden Klang der äußeren Welt ohne Vermittlung von Gegenständen vor den Betrachter zu stellen. Durch das Zurücklassen der äu- ßeren Hülle der Dinge sollte ihr Inneres, ihr Wesen sichtbar gemacht werden. Rothko entwickelte die abstrakte Kunst weiter durch seine unstrukturierten Farbflächen, die sich auch von Landschaftsassoziationen lösen. Er selbst bezeichnete die abstrakte Kunst als Annäherung an das Geheimnis Gottes und als ein Tor in eine andere Welt.
Abstrakte Bilder können deshalb mustergültige Gottesbilder sein, denn sie versuchen nicht, Gott dingfest zu machen. „Gott ist Geist“ (Joh 4, 24) – und abstrakte Malerei kann sich bemühen, diese Charakteristik Gottes auszudrücken, indem sie menschliche oder gegenständliche Formen oder symbolische Verweise hinter sich lässt und nur mit den Mitteln von Form und Farbe (auch auf diese verzichtet Rothko wie gesagt gegen Ende seines Lebens fast gänzlich) versucht, sich der geistlichen Dimension Gottes anzunähern. Abstrakte Malerei ist spirituelle Malerei par excellence.
Farbklang und vibrierender Farbraum
Farbe ist ohne Zweifel das Hauptausdrucksmittel, das Mark Rothko für unser Titelbild verwendete. Doch er gießt diese Farben in Formen, die für die Wirkung des Bildes ebenso wichtig sind. Auf die leicht hochrechteckige Leinwand setzt er zwei Farbflächen, die unstrukturiert sind und an den Rändern leicht „auslaufen“. Rothko trug diese Farbflächen oft nicht mit dem Pinsel auf, sondern tränkte die Leinwand in die entsprechende Farbflüssigkeit. Unten leuchtet eine kleinere orange Farbfläche, darüber ist eine ungefähr doppelt so große, dunklere, rotbraune Farbfläche gesetzt. Beide Flächen werden von einem schmalen Streifen getrennt, durch den der dunkle, rotviolette Hintergrund zu sehen ist. Es hat etwas von der ursprünglichen Trennung von Licht und Finsternis, von Wasser und Land, von Tag und Nacht (vgl. Gen 1, 1–31). Die leuchtenden Farbflächen in ihrem Kontrast zeigen uns etwas von dem, aus dem das Licht entstand.
Durch die aufeinander abgestimmten Farbtöne, durch die einheitliche Struktur der Flächen und durch die ausfransenden Umrisslinien scheinen die beiden Farbflächen vor dem Hintergrund zu schweben. Es entsteht eine Dreidimensionalität, welche die reine Flächigkeit abstrakter Kunst weiterführt. Durch die dünne Trennlinie zwischen den beiden Flächen treten sie miteinander in Kontakt. Sie scheinen in Bewegung zu geraten und erschaffen einen vibrierenden Farbraum, der uns in die Tiefe führt.
Wenn wir von „Farbton“ sprechen, so beinhaltet das ja schon einen musikalischen Verweis. Jede Farbe scheint einem anderen Ton zu entsprechen, den wir im Inneren hören können, wenn wir uns der Farbe aussetzen. Die drei Farben auf Rothkos Stuttgarter Bild erzeugen aber einen Farbklang, einen harmonischen Farbakkord (wenn auch die musikalische Entsprechung der abstrakten Malerei eigentlich die atonale Musik ist). Sie stellen den Betrachter vor eine tönende Stille, die ihn in der Meditation auf Gott verweisen kann.
Gefühle vor Gott
Doch dürfen wir bei dieser äußeren Betrachtung der Formen und Farben und ihrer Beziehungen zueinander nicht stehen bleiben. Rothko selbst äußerte einmal, dass diejenigen, die nur durch die Beziehungen der Farben angesprochen würden, ihn nicht verstanden hätten. Er selbst sei nicht interessiert an Beziehungen von Form und Farbe, was ihn interessiere sei es, menschliche Gefühle auszudrücken.
Rothko sah, dass er eine Verbindung zu menschlichen Grundgefühlen erreicht hatte, wenn er berichtete, dass Menschen vor seinen Bildern weinten oder sogar zusammenbrachen. „Die Leute, die vor meinen Bildern weinen, machen die gleiche religiöse Erfahrung wie ich, als ich die Bilder malte.“ Es ist also eine religiöse Erfahrung, um die es ihm geht. Er hat diese Erfah-rung im Malprozess gemacht und er möchte, dass die Betrachter diese ebenfalls machen können. Wer diese Bilder anschaut, der kann im Innersten erschüttert werden, weinen, weil er Gott begegnet und damit sich selbst. Es ist wie die Szene in der Passionsgeschichte (vgl. Lk 22, 54–62), als Jesus Petrus nach dessen Verrat anschaute, kein Wort sagte, ihn nur anschaute. Es war ein Blick der Wahrhaftigkeit und der Liebe, ein Blick wie ein Spiegel, in dem Petrus sich selbst erkannte, aber auch die Liebe Gottes zu ihm. „Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“ (Lk 22, 62)
Heinz Detlef Stäps