Elli ist gerade ein halbes Jahr alt, da bekommt ihre Mutter Erin den Anruf eines Kollegen. Die Krise frisst die Arbeitsstellen. Die ganze Abteilung ist im Umbruch, Erins Job wird es nach einer anstehenden Umstrukturierung nicht mehr geben. Das erste Jahr wollte Erin in Elternzeit, das zweite ihr Mann Hans. Jetzt ziehen beide die Notbremse; auch Hans wirft seine Hausmann-Pläne über den Haufen, denn in seiner Firma gibt es ebenfalls Stelleneinsparungen. Hans hat Angst, als erziehender Vater den Fuß nicht mehr in der Tür zu haben und schnell auf die rote Liste zu kommen. Das Paar vereinbart: Nach Ellis erstem Geburtstag wollen beide arbeiten. Teilzeit und/oder Homeoffice macht dann der, der dafür im Betrieb die besseren Bedingungen heraushandeln kann.
Das Paar besucht drei städtische Krippen und lässt sich vormerken. Das Ergebnis – ernüchternd: Trotz zweier neuer Kitas im Stadtviertel ist die Wartezeit ungewiss, immer mehr Eltern wollen und müssen ihre Kinder unterbringen. Erin und Hans sind nicht alleinerziehend und auch sonst kein Härtefall, aus Sicht der Kita-Leitung „müssen“ sie nicht beide arbeiten. Eine Kinderfrau kommt aus Kostengründen nicht in Frage, ein Au-Pair-Mädchen können die beiden in ihrer Wohnung nicht unterbringen.
Ist und bleibt nervenaufreibend: Wer Job und Kleinkind unter einen Hut bringen will, hat es hierzulande nicht gerade leicht.
Private Träger bieten oft mehr
Hans sucht nach Tagesmüttern. Auf eine Anzeige in der Tageszeitung melden sich auch zwei Frauen, deren Deutsch so schlecht ist, dass eine Verständigung am Telefon fast unmöglich ist. Die nächste Frau klingt kompetent, wohnt aber zu weit weg. Eine weitere Anruferin mit drei Kindern ist empört, als Erin sie fragt, welche Ausbildung sie für den Job als Tagesmutter qualifiziert. Sie sei schließlich Mutter, ranzt sie Erin an und legt auf. Hans geht zu einer Familien bildungsstätte, dort gibt es eine Tagesmuttervermittlung. Hans zahlt eine Gebühr und kommt mit seinen Daten in eine Kartei. Ob sie dem Paar helfen können und wann, darüber wollen die Vermittler keine Prognose abgeben. Eine Nachfrage bei den kommunalen Krippen verläuft ohne Erfolg: noch kein freier Platz in Sicht. In einem benachbarten Ort öffnet eine neue Kita. Der Träger ist ein Verein, die Betreuungszeiten sehr individuell. Auch das Wochenende kann man buchen. Nachteil: Die Kita ist teuer und der Weg dorthin würde einen enormen Zeitaufwand bedeuten.
Erin bekommt allmählich die Panik, ihr Teamleiter will wissen, wann sie zurückkommt und an wie vielen Tagen die Woche; mit gelegentlicher Homeoffice- Zeit ist er einverstanden. Hans stößt bei seinem Chef auf wenig Verständnis, als er nach Teilzeit fragt. Er und Erin wollen am liebsten beide 70 Prozent arbeiten. Nach weiteren drei Monaten kommt endlich ein Anruf aus dem Familienbildungszentrum. Die Familie besucht drei Frauen zu Hause. Mit allen würden sie spontan klarkommen, doch Anna, eine gelernte Erzieherin, wohnt nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt. Sie hat eine zweijährige Tochter und möchte zwei Kinder in Tagesspflege nehmen. Etwa 700 Euro wird die Betreuung für drei Tage in der Woche kosten.
Misstrauen bei Fremdbetreuung
Unter seinen europäischen Nachbarn ist Deutschland ein Sonderfall. Nur 18 Prozent der Kinder unter drei haben eine Betreuung, das sind rund 417.000 Kinder, die im Jahr 2009 in Kindertageseinrichtungen oder in öffentlich geförderter Kindertagespflege betreut wurden. Immerhin ist dies ein Anstieg um 53.000 Kinder beziehungsweise 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bis zum Jahr 2013 soll es bundesweit im Durchschnitt für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz geben; rund ein Drittel der neuen Plätze werden in der Kindertagespflege geschaffen. Im gleichen Jahr wird jedes Kind mit Vollendung des ersten Lebensjahrs einen Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in der Tagespflege haben.
Trotz größer gewordener Akzeptanz und der anhaltenden Schaffung neuer „U3-Eintrichtungen“ ist die Betreuung von Kleinkindern hierzulande noch im mer nicht nur eine Frage der Struktur, des Angebots und des Geldes, sondern auch eine ideologische. „Frühe Fremdbetreuung“: Allein das Wort zeigt das große Misstrauen, das vor allem in Westdeutschland gegenüber einer Betreuung außerhalb der Kleinfamilie herrscht. Das schadet nicht und fördert im Gegenteil die soziale, kognitive und sprachliche Entwicklung des Kleinkinds, sagen die einen. Das Kind werde ohne Dauerpräsenz von Mutter oder Vater zum eingeschüchterten Häufchen Elend, das sich nichts traue und später aggressiv werde, sagen die anderen.
Auf dem Rücken der Mütter ausgetragen
Ausgetragen wird der Kampf der Ideologien auf dem Rücken der Mütter. Die einen zögern (zu) lange beim Wiedereinstieg in den Beruf, die anderen bekommen ein dauerhaft schlechtes Gewissen und arbeiten Teilzeit. Jede zehnte Frau in Deutschland, zählte das Statistische Bundesamt im April 2008, blieb zu dieser Zeit wegen familiärer Verpflichtungen ganz zu Hause. In Frankreich taten das zum gleichen Zeitpunkt nur 4,9 Prozent, in Dänemark 2,1 Prozent und in Großbritannien 1,9 Prozent der Mütter. Wer Vollzeit arbeitet, muss mit vielen Fragen, schiefen Blicken und dem Etikett „Karriereweib“ rechnen. Immer noch.
Die Wissenschaft, die die Befürworter wie auch Kritiker außerfamiliärer Kleinkindbetreuung ins Feld führen, heißt Bindungsforschung. Ein kleines Kind braucht eine feste Bindung zu einer Person. Ist die Bindung zur Mutter/zum Vater grundsätzlich stabil, verkraftet das Kind auch eine weitere Bezugsperson, zum Beispiel eine Erzieherin in einer Krippe, ohne dass das Kind oder die Beziehung zu den Eltern Schaden nimmt. Die Kritiker der „Fremdbetreuung“ bezweifeln dies. Doch in vielen Kulturkreisen und Ländern der Erde werden die Kinder von Großfamilien erzogen und auch in Deutschlands europäischen Nachbarländern schickt man Kleinkinder in Kitas, ohne dass der Nachwuchs in großem Umfang seelisch gestört und fürs Leben verunsichert ist.
Wichtig ist die Qualität
Wichtig ist die Frage nach der Qualität der Betreuung. Als man 1996 den Anspruch auf einen Kindergartenplatz gesetzlich vorschrieb, bezahlten Kinder und Eltern dies mit sinkender Qualität: Die Gruppen wurden größer, das zusätzliche Personal war oft nicht ausreichend gut qualifiziert. Doch gerade Kinder unter drei Jahren brauchen eine spezielle Pädagogik und es sollte mindestens doppelt so viel Personal zur Verfügung stehen wie in einem Kindergarten. Stimmt der Betreuungsschlüssel nicht, reicht es nur für „satt und sauber“ und nicht für eine altersgemäße Zuwendung oder gar frühe Förderung.
Ob sich eine Familie eine individuelle Betreuung durch eine ins Haus kommende Kinderfrau oder eine Tagesmutter leisten will beziehungsweise kann, oder sich doch lieber für eine Kita entscheidet, das ist immer eine sehr persönliche Abwägung. Wer ein halbjähriges oder ein sehr schüchternes zweijähriges Kind hat, dem ist mit einer individuellen Betreuung in einer Familiensituation, zusammen mit wenigen anderen Tageskindern, vielleicht besser gedient als mit der Kita. Jede volle, aber pädagogisch gut ausgestattete Kita-Gruppe kann jedoch besser sein als eine unqualifizierte Tagesmutter, und jede engagierte, liebevolle Tagesmutter ohne Fachausbildung besser als eine pädagogische Kraft, die keine Lust auf kleine Kinder hat.