... bewältigen. Dabei ist es auch immer ein Lauf ins Ungewisse. Denn trotz monatelanger Vorbereitung bleibt der tatsächliche Rennverlauf und Rennausgang ungewiss. Trainer Tono Kirschbaum, der in Wattenscheid die Trainingsgruppe mit Marathonläufer Hendrik Pfeiffer betreut, weiß um jene Brisanz des Marathonlaufens. „Es bleibt immer dieses große Fragezeichen. Denn anders als beispielsweise beim 100-Meter-Lauf weißt du bei einem Marathon eben nicht, ob du es auch ins Ziel schaffst.“ Eine durchdachte Rennstrategie kann allerdings dabei helfen, Sicherheit und Orientierung zu geben.
Wie also sollte man die 42,195 Kilometer angehen, damit man seinen (Wunsch-)Vorstellungen gerecht wird? Und das ist gleich der erste Punkt, den man als Läufer*in beherzigen sollte: Realismus. Auch wenn sich im Vorfeld eines Marathons eine mögliche Zielzeit prognostizieren lässt, sollte man immer realistisch bleiben und sein Glück nicht herausfordern. Natürlich kann man einen Marathon auch nach dem Motto: „Einfach mal machen und schauen, wie weit man kommt“ angehen. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Herangehensweise spätestens in der zweiten Rennhälfte bitter bestraft wird. Es fängt demnach mit einer realistischen Zielsetzung an, auf die alles andere aufbaut - sowohl das Training als auch die gewählte Rennstrategie. Lieber Bescheidenheit an den Tag legen und sich selbst überraschen, anstatt sich mit Übermut ins Rennen zu stürzen.
Nennen wir es „Vorsichtsmaßnahmen“, die uns dem Ziel zumindest schon einmal näherbringen. Welche Rennstrategien gibt es und welche Vor- als auch Nachteile bringen sie mit sich?
Der negative Split
Fangen wir mit der vielleicht bekanntesten Rennstrategie an: Der negative Split. Hier wird die erste Hälfte eines Marathons im Gegensatz zur zweiten langsamer gelaufen. Kenenisa Bekele beispielsweise ist bei all seinen Weltrekorden einen negativen Split gelaufen. Man geht bewusst in die Defensive: „Weniger am Anfang, ist am Ende mehr“, oder wie es Marathonläuferin Katharina Steinruck sagen würde: „Jede Sekunde, die man am Anfang zu schnell läuft, rächt sich hinten raus.“ Steinruck gehört wie Hendrik Pfeiffer zu Deutschlands Marathonspitze und konnte im Herbst 2019 in Frankfurt mit einer neuen persönlichen Bestzeit (2:27:26 Stunden) unter der Norm für die diesjährigen Sommerspiele in Tokio bleiben. Die 30-Jährige lässt es im Marathon nicht auf das Quäntchen Glück ankommen und versucht, ihrem Plan, welchen sie sich für ihr Rennen vorgenommen hat, so gut wie möglich zu folgen: „Du bereitest dich im Training auf den Umfang, die möglichen Geschwindigkeiten sowie auf die potenziellen Situationen vor, um am Tag X entsprechend reagieren zu können. Gerade auch als Debütant*in sollte man versuchen, gleichmäßig zu laufen und vor allem ruhig loszulaufen. Am Anfang also lieber die Handbremse anziehen, auch wenn es einem zu locker vorkommt, denn die eigene Euphorie und die Stimmung an der Strecke kann einen schnell mitreißen und zu Übermut verleiten.“
In der Defensive und einem gleichmäßig gelaufenen Marathon sieht auch Tono Kirschbaum den chancenreichsten Rennverlauf: „Man sollte es lieber verhalten angehen, denn obwohl man seinen Trainingszustand kennt, weiß man nicht, was man am Tag X wirklich auf die Straße bringen kann. Optimistisch sein, aber realistisch bleiben und am Anfang nicht überpacen - du kannst es dir immer noch auf der zweiten Hälfte zurückholen. Außerdem stärkt jeder gelaufene Kilometer deine Selbstsicherheit und stabilisiert zunehmend dein Rennverhalten.“
Katharina Steinruck (links) vor dem Start beim Frankfurt Marathon. Hendrik Pfeiffer (rechts) neben seinem Trainer Tono Kirschbaum.
Fotos: Mainova Frankfurt Marathon (3), privat
Der Even Split
Bei dieser Strategie geben genaue Zwischenzeiten den Ton an beziehungsweise das Tempo vor. Meistens sind es die 1000-Meter- Zeiten, die sich an einer bestimmten Zielzeit orientieren. Diese sind zwar nicht immer auf die Sekunde genau erreichbar, aber sie helfen, ein gleichmäßiges Tempo anzustreben und beizubehalten. Sofern man also zu schnell oder zu langsam läuft, versucht man, dieses Minus oder Plus auf den nächsten Kilometern wieder auszugleichen. Hendrik Pfeiffer sieht im Even Split die cleverste Herangehensweise, um sein Zeitziel zu erreichen: „Für die Zwischenzeiten muss man sich aber gut einschätzen können und die Trainingswerte richtig auslesen. Wenn man sich verschätzt, wird es dann doch schnell ein positiver Split.“
Dazu kommt, dass die angestrebten Zwischenzeiten je nach Streckenprofil (Höhenmeter) und Gegebenheiten (Wetter) angepasst werden müssen. Genauso, wie sich das Tempo verändern kann, wenn man beispielsweise durch bereits zurückgelegte Kilometer an Sicherheit gewinnt und im Hinblick auf die angestrebte Zielzeit mehr auf Risiko gehen möchte.
Allerdings rät Tono Kirschbaum vom Grundsatz her von zu starken Tempoverschärfungen ab, weil sie einen nur aus dem Rhythmus bringen. Katharina Steinruck ergänzt: „Das hat dann eher mit einem Tempowechseltraining zu tun! Wenn dieser Plus-minus-Spielraum zu groß wird, dann zehrt das nur zusätzlich an den Kräften. Man muss den Zeitverlust aber natürlich nicht gleich auf dem folgenden Kilometer wieder reinholen, sondern kann es sich für die nächsten fünf Kilometer vornehmen - kontrolliert und sukzessive.“
Der Positive Split
Hier wird umgekehrt zum negativen Split die erste Hälfte eines Rennens schneller gelaufen. Für manche mag die Taktik, „am Anfang bewusst Zeit gut zu machen, die man am Ende einbüßen kann“, funktionieren, aber wenn man bedenkt, dass ein Marathon eigentlich erst bei Kilometer 30 so richtig anfängt, ist diese Rennstrategie doch eher riskant und spielt einem gleichmäßigen Rennen alles andere als in die Karten. Deshalb passiert ein positiver Split, wie Hendrik bereits angedeutet hat, meist eher unfreiwillig. Tono Kirschbaum: „Es gibt natürlich auch Strecken, wo Höhenmeter (wie bergab auf der ersten Hälfte) oder die Umstände (wie Rückenwind) einem automatisch zu einer schnelleren ersten Hälfte verleiten, ohne dass man dabei zu viel Kraft verspielt - das ist jedoch eher die Seltenheit.“ Sowohl Pfeiffer als auch Steinruck raten von einer solchen Renntaktik ab, da man hinten raus nicht mehr in die Entscheidung eingreifen kann und es sich mental umso schwerer macht. „Du erarbeitest dir zwar einen Puffer, musst es dann aber immer noch ins Ziel schaffen. Wenn du deine Körner gleich auf der ersten Hälfte verballerst, kannst du hinten raus Probleme bekommen. Und wenn man sich ab der Hälfte nur noch ins Ziel quälen muss, macht das auch keinen Spaß mehr“, sagt Steinruck.