... Thema Autoimmunerkrankungen ist Dr. Klasen genau der richtige Gesprächspartner. Denn diese vielschichtigen Krankheitsbilder sind schon seit vielen Jahren einer seiner medizinischen Schwerpunkte.
Was fasziniert Sie eigentlich so an den Autoimmunerkrankungen, Herr Dr. Klasen?
Dr. Jörn Klasen: Sie sind ja erst vor 30, 40 Jahren so richtig ins Visier der Medizin geraten. Das Spannende für mich ist ihre ungeheure Vielfalt. Ich fühle mich sehr herausgefordert durch die detektivische Spürarbeit, die ich bei ihnen leisten muss. Das liegt mir sehr. Die Patienten kommen mit ganz unspezifischen Symptomen in die Praxis. Z. B. sind sie mal müde oder schlapp und abgeschlagen, haben eventuell leichte Schmerzen. Keiner denkt da ja gleich an eine Autoimmunerkrankung.
Sie sprechen von detektivischer Spurensuche. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Dr. Jörn Klasen: Ganz wichtig ist erst einmal eine akribische, umfassende Anamnese, dann kommt die körperliche Untersuchung. Und daraus wird eigentlich erst die technische, apparative Untersuchung abgeleitet. Dazu gehört z. B. die Blutuntersuchung auf spezifische Antikörper. Oder ein Rheuma-Scan mit Fluoreszenz-Bildgebung, die Entzündungen in den Gelenken verrät. Und dann noch etwa die nichtinvasive Kapillarmikroskopie, die die Durchblutung in den kleinsten Gefäßen darstellt.
Dr. Matthias Riedl: Jetzt stehen natürlich noch klassische diagnostische Verfahren wie Röntgen, Computer-oder Magnetresonanz-Tomografie aus. Das Besondere: Es gibt zwar Standard-Verläufe. Aber letztendlich hat jede Autoimmunerkrankung ihren ganz individuellen Ablauf.
Aber das ganze Prozedere der Diagnostik hört sich nach viel Zeitaufwand an. Richtig?
Dr. Jörn Klasen: Das ist ja das Dilemma. Von den ersten Symptomen bis zur eindeutigen Diagnose dauert es oft viele, nicht selten sogar bis zu acht, neun Jahre. Wie beispielsweise bei einer Rheumatoiden Arthritis. Das Fatale: Bei vielen Autoimmunerkrankun-
DAS MACHT MUT
Ein Ratgeber für Menschen mit der Autoimmunerkrankung, die jeden treffen kann. Dr. Klasen und Dr. Ahmadi Simab berichten umfassend, was sich in der Therapie Hoffnungsvolles getan hat (ZS, 240 Seiten, 24,99 Euro) gen können unbehandelt schon in den ersten Wochen bis Monaten irreparable Schäden entstehen, etwa an den Gelenken.
Dr. Matthias Riedl: Und die Crux, die zur langjährigen Odyssee der Patienten von Facharzt zu Facharzt und zu besagten irreversiblen Schäden führen kann, geht noch viel weiter. Beispiel Rheuma: Erstens haben wir da bei den Rheumatologen in ganz Deutschland nur rund 600 bis 800 internistische Fachärzte. Wir bräuchten aber mindestens dreimal so viel. Zweitens besitzen nur sechs Universitäten einen rheumatologischen Lehrstuhl. Damit gibt es also viel zu wenig Ausbildungsplätze für angehende Ärzte dieser medizinischen Fachrichtung. Und drittens ist das Netzwerk von Fachmedizinern bei uns leider nicht engmaschig geknüpft und weit genug gespannt.
Dr. Jörn Klasen: Das stimmt haargenau. Aber das Problem ist natürlich auch bei den Betroffenen selbst begründet. Weil ihre Beschwerden gerade anfangs meist sehr diffus, eher sporadisch und harmlos anmuten, nehmen sie sie oft nicht richtig ernst und gehen zu spät zum Arzt. Lieber hier mal ein Schmerzmedikament oder da mal ein Hausmittelchen. Sie doktern gern an den Symptomen herum – wie übrigens leider auch der eine oder andere Arzt.
Vorhin fiel der Begriff „Vielfalt“ im Zusammenhang mit Autoimmunerkrankungen. Welche zählen denn zu ihnen?
Dr. Jörn Klasen: Wir haben da ein Riesenfeld. Wenn wir mal die häufigsten betrachten, gehören zu ihnen alle rheumatischen Erkrankungen, allen voran die Rheumatoide Arthritis, Diabetes Typ 1, Schilddrüsenerkrankungen wie z. B. Hashimoto-Thyreoiditis. Ungefähr zehn Prozent der Frauen über 40 erkranken daran.
Dr. Matthias Riedl: Nicht zu vergessen Psoriasis, Multiple Sklerose, Polyneuropathie oder Zöliakie und der kreisrunde Haarausfall.
Aber es ist doch total verrückt vom Immunsystem, sich gegen den eigenen Körper zu wenden! Warum tut es das?
Dr. Jörn Klasen: Diese Frage ist wahnsinnig schwer zu beantworten, weil Autoimmunerkrankun
ʼKreuzkümmel, Kurkuma, Zimt – viele Gew ürze hemmen Entzündungenʽ
DR. MATTHIAS RIEDL
ʼMein antientzündliches Geheim-Rezept ist Haferkleie mit Bio-Leinölʽ
DR. JÖRN KLASEN
gen so überaus komplex sind. Da kommen viele Faktoren zusammen. Die Genetik spielt aber eine geringere Rolle, als wir früher annahmen. Dagegen eine größere vor allem z. B. Umweltbelastungen wie Feinstaub, Pestizide, Mikroplastik, Klimaveränderungen, übertriebene Hygiene oder eine fehlende Immunisierung von Kaiserschnitt-Babys über den Geburts-Kanal. Natürlich sind auch seelische Belastungen ein Grund dafür, dass die Abwehr vollkommen die Richtung verliert. Es gibt keine Autoimmunerkrankung ohne psychologische Wurzel. Hinzu kommt eine Infektionsneigung, besonders auch die Stressbelastung eines Menschen.
Dr. Matthias Riedl: Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Autoimmunerkrankungen im gewissen Sinn Umwelt-Krankheiten sind. Denn wir haben es vergessen, verlernt, ein Teil der Natur zu sein, haben sie ein Stück weit sogar abgeschafft. Und uns eine menschenfeindliche, ökologische Umwelt kreiert – total clean, aviral, abakteriell. Fast so steril wie im Labor. Wir brauchen das Ökosystem aber zum artgerechten Leben. Für die Umwelt, unsere Psyche, fürs Soziale, Spirituelle, fürs Im-Reinen-mit-uns-Sein. Das reguliert gerade auch die Abwehr.
Apropos Immunsystem: Sind Allergiker autoimmunanfälliger? Und kann eine Corona-Impfung es vielleicht falsch polen?
Dr. Jörn Klasen: Allergiker haben vom Grundsatz her ein überstarkes Immunsystem gegenüber der äußeren Fremdwelt, die ein bisschen zu tief in den Körper eingedrungen ist. Autoimmunologisch sind sie aber nicht anfälliger.
Dr. Matthias Riedl: Und zu Impfungen generell: Bislang spricht nichts für diese Annahme. Impfungen schieben weder eine Autoimmunerkrankung an noch lösen sie Schübe aus und/oder verschlimmern sie. Da gibt es überhaupt keinen Zusammenhang.
Immer wieder machen Mikroentzündungen als Auslöser von sich reden. Ist da was dran?
Dr. Jörn Klasen: Ja. Erst seit einigen Jahren wissen wir, dass chronische Mikroentzündungen mächtige Anschieber sein können. Erst sie lösen eine autoimmunologische Reaktion aus. In der Darm wand bei Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn, in der Schilddrüse, der Leber, dem Kniegelenk … Und am Ende einer derartigen Autoimmunreaktion durch diese Mikroentzündungen steht immer eine chronische Entzündung. Egal in welchem Teil des Körpers.
Dr. Matthias Riedl: Aber auch Infektionen mit einem banalen Er kältungs-Virus oder einem seltenen Epstein-Barr-Erreger können die Krankheit auslösen. Ich komme aber auch noch mal zurück auf dein Stichwort „Stress“. Er ist ja genau genommen eine Aggression gegen uns selbst, weil wir mit uns nicht aufmerksam genug umgehen und ihn in diesem ungesunden Maße zulassen. Das ist letztlich auch eine Autoaggression. Oder wie siehst du das?
ʼWer im Einklang mit der Natur lebt, bekommt tatsächlich seltener eine Autoimmunerk rankungʽ
DR. JÖRN KLASEN
ʼUngesunde Ernährung schwächt die Abwehr, lockt Autoimmunerk rankungenʽ
DR. MATTHIAS RIEDL
Dr. Jörn Klasen: Genau. Und da hilft nur eins: Wenn ich merke, ich bin jetzt stark belastet, muss ich in dieser angespannten Phase umso mehr auf mich achten. Vielleicht mit einer Entspannungsmethode wie der Meditation, dem Yoga oder einem Spaziergang in der Natur. Nur ich selbst kann schließlich herausfinden, welche Technik mich am besten entspannt. Sie muss zu mir passen, erst dann entstresst sie mich auch effektiv. Aber leider erreicht dieses antientzündliche Stress-Management derzeit noch zu wenig Patienten.
Gibt es eigentlich einen Typus Mensch, der zu Autoimmunerkrankungen neigt?
Dr. Jörn Klasen: Menschen, die von sich selbst oft mehr verlangen, als sie leisten können, haben eine autoimmune Tendenz. Auch dann, wenn sie zu ehrgeizig sind und sich gern unter Dauerstress setzen. Aber Auslöser ist dann, wie schon erwähnt, der Stress und nicht irgendeine Typologie.
Kommen wir zur vielleicht wichtigsten Frage: Sind Autoimmunerkrankungen heilbar?
Dr. Jörn Klasen: Wir können zu den relevanten Ursachen der Erkrankung nur bedingt etwas sagen. Da ist die Forschung längst nicht am Ende. Weil wir das nicht können, haben wir bislang noch keine ursächliche und damit heilende Therapie an der Hand. Die Behandlung wird zwar immer zielgerichteter, ist und bleibt aber vorerst ausschließlich symptomatisch.
Dr. Matthias Riedl: Aber die Ernährungstherapie tendiert zur ursächlichen Behandlung. Sie schafft es, Mikro-, chronische Entzündungen ein ganzes Stück zu verbessern. Gleichzeitig stärkt sie die Abwehr im Darm. Damit hat die Ernährung einen heilenderen Ansatz als Medikamente. Und sie ist eine ideale – und die bisher einzige – Präventionsmaßnahme.
Passgenau ist die antientzündliche Ernährung (siehe Seite 32). Können Sie die wichtigsten No-Gos und Gos nennen?
Dr. Jörn Klasen: Nicht mehr als 25 g Zucker am Tag. In einem Glas Apfel-saft stecken schon 30 g. Höchstens 250 g Fleisch pro Woche, nicht vom Schwein. Keinen modernen Weizen, keine Kuhmilch mit Entzündungsstoffen.
Dr. Matthias Riedl: Gut ist die Tendenz zum Vegetarischen. Ideal: eine große, regionale, saisonale Vielfalt an Gemüse mit mindestens 25 Sorten inklusive frischer Kräuter pro Woche. Plus pflanzliche Öle, Omega-3-Fettsäuren aus Seefisch, eine Handvoll Nüsse täglich, auch geschrotete Leinsamen.