... verliefen, nicht wie sie wirklich geschahen.«
Das war nicht wahr.
Lion Feuchtwanger (1884 bis 1958), einer der weltweit erfolgreichsten deutschen Autoren der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, hat viele Jahre lang sein Leben aufgeschrieben, in Notizen, die offenbar nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Heeresberichte seiner inneren Kämpfe. Heeresberichte für sich selbst. 1991 hat sie der Germanist Harold von Hofe im Nachlass von Feuchtwangers letzter Sekretärin, Hilde Waldo, entdeckt. Der Autor hatte die meisten Einträge in der veralteten Gabelsberger-Kurzschrift verfasst, die heute kaum noch jemand beherrscht und die mühsam zu entziffern war. Jetzt, 60 Jahre nach Feuchtwangers Tod, werden die gesammelten Tagebücher erstmals veröffentlicht*.
Wir sind bei den jungen, mondänen Münchner Jahren dabei, in den Zeiten der Unsicherheit, ob er je ein veröffentlichter Autor werden würde. Wir erleben ihn als politischen Traumtänzer, der mit seiner Frau Marta in Afrika vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs komplett überrascht wird, dann als Kriegsgegner und erfolgreichen Dramatiker in Opposition zu Land und Zeit.
Wir erleben sein Leben als einen dramatischen Roman jener Jahre, das Leben eines jüdischen Deutschen, der sich stets als Internationalist betrachtete, der zu Weltruhm und märchenhaftem Reichtum gelangte, von Goebbels, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, zum Staatsfeind Nummer eins ernannt. Der in Amerika ebenso umjubelt wurde wie in der Sowjetunion, von Künstlern, Staatschefs und Lesern. Der sich politisch enorm irrte und schließlich in den USA als Staatenloser starb.
Und der sein ganzes dokumentiertes Leben lang von einem unstillbaren ero - tischen Verlangen getrieben wurde. Huren, Geliebte, Ehefrauen von Freunden, Blitzsexpartnerinnen, alle werden notiert – Lion Feuchtwangers Aufzeichnungen sind auch das Dokument eines frauenverschlingenden Lebens. Vor allem aber die Er füllung eines früh formulierten Lebenswunschs: »ein möglichst inten - sives Leben« zu führen. Wenn er sich in diesen Heeresberichten nicht selbst be- logen hat, muss man sagen: Das ist ihm gelungen.
Der SPIEGEL druckt Auszüge.
* Lion Feuchtwanger: »Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher«. Aufbau; 528 Seiten; 26 Euro.
1906
Feuchtwanger studiert in München und Berlin Germanistik, Geschichte und Philosophie und löst sich von der Orthodoxie des Elternhauses. Erste Versuche als Schriftsteller.
1. JAN.Den Sylvesterabend auf dem Maskenball der »Philharmonie« verbracht. Trotzdem an Stimmung und an begehrenswerten Frauen kein Mangel war, hab’ ich mich gelangweilt. Infolge jenes peinlichen, lächerlichen, kindischen Verlegenheits - gefühls, das mich so häufig gänzlich unmotiviert überfällt und das unüberwindlich scheint. Verärgert und gequält von erwachter unbefriedigter Sinnlichkeit verließ ich das Fest um 3 Uhr und ging langsam nach Hause, von dem interessanten, für Berlin typischen Sylvestertrubel angewidert. Merkwürdig jene Streichholzverkäuferin, die inmitten des Gewühls der Friedrichstraße auf den Steinstufen eines Hauses gänzlich unbeachtet in der schneidenden Kälte der Winternacht eingeschlummert lag. Dann mit einem Dirnlein gegangen, das ich von früherher kannte. Gleichwohl durch sinnliche Erregung im Schlaf gestört.
Feuchtwanger-Tagebücher
»Poetischer Kern«
11. JAN.Merkwürdig, daß ich die unschönen Züge so vieler Dichter in mir vereine: die knabenhafte Verlegenheit Grillparzers, die Koketterie und Zerrissenheit Heines, die Eitelkeit Schlegels, die lioness und Halt - losigkeit Wildes, die Selbstzerfaserung Hebbels mit einem Stich ins Affektierte, die Prunksucht Hamerlings. Ob unter all diesem Wust ein poetischer Kern sich birgt?
16. JUNIMeine Weltanschauung: Sicher ist, daß der lebendige Mensch mehr Intensität des Gefühls besitzt als die übrige Materie. Zweck des menschlichen Lebens ist es, diese Intensität nach Kräften zu verstärken. Mein Ziel also sehe ich darin, ein möglichst intensives Leben zu führen – Intensität des Lebens ist nicht zu verwechseln mit Genuß. Der negative Pol dieser Intensität ist der Tod, der positive die Liebe.
1910
München. Hoffnung auf Einlass in die Welt des literarischen Establishments. Erste Begegnung mit Marta, der einen Frau seines Lebens.
19. JAN.Abends lang vorbereitete größere Gesellschaft bei uns in der Galeriestr. Mich gut amüsiert. Mit Hartmann und einem Fräulein Marta Löffler, einer nicht eben gescheiten, aber recht temperamentvollen jungen Jüdin. Sie hernach ins Café geschleppt und schließlich tüchtig abge küßt.
11. AUG.30 M bekommen und sogleich 20.– davon verspielt. Jetzt aber mir hoch und heilig geschworen, und wenn tausend Teufel mich dazu verlocken, nicht mehr zu spielen! Ebenso hab’ ich mir aufs festeste vorgenommen 1) alle Masturbation aufs peinlichste zu meiden und 2) kein Geld mehr auszugeben außer für Marie und Marta L. – Abends war Marie da und sie war sehr lieb und herzlich.
1918
München. Revolution. Feuchtwanger schaut zu und schreibt das frühe Revolu - tionsdrama jener Tage: »Thomas Wendt« (erster Titel: »Thomas Sturm«).
7. NOV.Die Revolution bricht los. Sie etwas besichtigt.
27. DEZ.Sitzung des Verbands deutscher Bühnenautoren. Halbe verlangt Kontrolle über das Nationaltheater, ich opponiere, unterstützt von Bruno Frank und Heinrich Mann.
1919
2. APRILEin junger Mensch bringt ein ausgezeichnetes Stück. Bert Brecht. – Frank da.
4. APRILEin anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: »Baal«.
7. MAIAn »Thomas Sturm« gearbeitet. – Das »Oberkommando Möhl« (von den einziehenden Truppen) verwarnt mich telefonisch, »keine politischen Telefon-Gespräche zu führen«: »Im eigenen Interesse.« Ich hatte harmlos mit Elchingers und Friedenthal gesprochen.
Die Jahre seines märchenhaften Auf - stiegs zum Welterfolgsautor mit dem Roman »Jud Süß« fehlen in den Aufzeichnungen. Seit 1925 lebt Feuchtwanger mit seiner Frau Marta in Berlin. Ende 1932 reist er für eine Vortragsreise in die USA. Er wird nie wieder nach Deutschland zurückkehren. Den Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erlebt er beim deutschen Botschafter in Washington. Charlie Chaplin schlägt er einen Hitlerfilm vor.
Häftling Feuchtwanger 1940 im französischen Les Milles: »Immer erst Erlaubnis erbitten«
1933
LOS ANGELES, 11. JAN.Lunch mit Chaplin und Mr. Moos von der Universal. Chaplin ist hingerissen von meinen Ideen über einen Hitlerfilm. Abends lange Autofahrt nach Pasadena zu Einstein. Ganz nett. Einstein redet ziemlich wenig und selbstgefällig. Er ist furchtbar saturiert. Es dauert ziemlich lange. Ich streite scherzhaft mit seiner Frau über unser Englisch.
NEW YORK, 30. JAN.Ziemlich früh aufgestanden. Um 10 Uhr kommt der deutsche Legationsrat, der mir geschrieben hat, Lehmann, und teilt mir mit, daß Hitler Reichskanzler sei. … Dann zum deutschen Botschafter … Ich fliege zurück. Die Lichter von New York machen mir nicht den Eindruck, den ich erwartet habe … Besonders merkwürdige Ironie, daß der deutsche Botschafter mir an dem Tag einen Lunch gibt, an dem Hitler Kanzler wird. – The lights are against me.
ST. ANTON, 13. MÄRZEilbrief der Sernau aus Zürich, mein Haus sei von S.A.-Truppen besetzt, das Auto und die Schreibmaschine beschlagnahmt. Die Akten und Manuskripte herausgerissen und fortgeschleppt. Ich nehme es sehr ruhig auf, auch Marta. Spazierengegangen.
Feuchtwanger geht in den französischen Badeort Sanary-sur-Mer ins Exil, wo in diesen Jahren viele emigrierte Schriftsteller leben. Ende 1936 bricht er für eine längere Reise in die Sowjetunion auf. Sein daraufhin veröffentlichter stalinfreundlicher Reisebericht »Moskau 1937« führt zu heftigen Kontroversen in der Emigration und dazu, dass er bis zum Ende seines Lebens nicht die amerikanische Staats - angehörigkeit erhält.
1937
SOSNY, 8. JAN.Furchtbar schlecht geschlafen infolge Erkältung. Morgens ruft man an, ich soll mittags zu Stalin. Außerordentlich unangenehmer Tag dafür, da ich ein Abführmittel genommen, nicht geschlafen habe und erkältet bin. Tal, Maria und Annenkowa holen mich ab. Ich spreche drei Stunden mit Stalin, erst gewundenes Zeug über die Freiheit des Schriftstellers, schwierig auch durch Übersetzung, dann über den Stalinkult, dann über »Demo - kratie«, dann über den Prozeß. Dann fahre ich sehr erschöpft zurück. Mit Eva zu Abend gegessen.
Leben im Schatten der Weltgeschichte in Sanary-sur-Mer in Frankreich. Feuchtwanger zögert viel zu lange mit seiner Ausreise in die USA. Schließlich ist es zu spät. Er wird als feindlicher Ausländer im Lager Les Milles inhaftiert.
1938
16. MÄRZScheußliche Radiomeldungen aus Österreich. Sigmund Freud verhaftet und dergleichen.
12. SEPT.Abends große Hitlerrede über den Krieg. Ungemein frech, dumm und komödiantisch. Hernach viele Leute bei uns: Stammreich, Marcuse, Frau Meier-Graefe, Wolf. Ein bißchen mit Sascha Marcuse geflirtet. Im ganzen anregend.
1939
25. AUG.Kriegsgefahr. Meine Stellung durch Schwenkung der stalinschen Politik recht erschwert.
3. SEPT.Kriegserklärung. […] Alle halten sich relativ ruhig.
16. SEPT.Furchtbar schlecht geschlafen. Auf Polizei gerufen. Zusammen mit den anderen Deutschen, die noch hier sind. Ich muß morgen ins Konzentrationslager. Inschrift in dem Polizeilokal: Bienvenue tous.
LA RODE, 20. SEPT.Mittlere Nacht gehabt. Das Unangenehmste, daß man immer erst Erlaubnis erbitten muß, um zu scheißen. Sonst leidlich. Beschränkungen: Man liegt auf Stroh, kein Licht des Nachts, zwischen 1 und 3 Uhr darf man nicht scheißen, menschliche Nöte: man darf pissen. Der korsische Feldwebel: Allez hop. Beschränkungen mit der Post. Die Unmöglichkeit, zu wissen, wie es in Sanary geht. Der Abschluß von der Außenwelt.
LES MILLES BEI AIX, 23. SEPT.Man wartet endlos, wird dann transportiert. Schauerlich. Einlieferung ins Lager. Schrecklich. Militärischer Drill. Grauenvoll staubig und schmutzig. Die Insassen alle besonders hilfsbereit zu mir. Kleine politische Dis - kussion. Alle zu meinen Füßen. Ich werde sehr verehrt.
1940
19. MAISchlecht geschlafen. Sorge über meine Situation. »Josephus«. Herrliches Wetter. Das ganze Land bis in jede Einzelheit steht unter der Sorge um den Ausgang der Schlacht in Nordfrankreich und um das eigene Schicksal.
20. MAIIn aller Frühe bei herrlichem Wetter die Nachricht erhalten, daß ich wieder nach Les Milles muß.
Hier enden die Aufzeichnungen. Feuchtwanger gelingt, zusammen mit seiner Frau, unter abenteuerlichen Umständen über Spanien und Portugal die Flucht in die USA. Dort lebt er bis zum Ende seines Lebens in Kalifornien, ab 1943 in der prachtvollen Villa Aurora.
Warum die Aufzeichnungen jener Jahre fehlen? Die Herausgeber vermuten, er habe darin auch ausführlich die Affäre mit seiner letzten Sekretärin beschrieben. Und die wollte diesen Teil der Aufzeichnungen eines intensiven Lebens vielleicht gern für sich behalten.
WALTER BONDY / FEUCHTWANGER MEMORIAL LIBRARY, UNIVERSITY OF SOUTHERN CALIFORNIA, LOS ANGELES
PAULA GOLDMAN / USC LIBRARIES
FEUCHTWANGER MEMORIAL LIBRARY, UNIVERSITY OF SOUTHERN CALIFORNIA