Die immer stärker hindurchdringende Sonne verdrängt die letzten Wolken und macht den Blick frei auf eine schier unendlich weite Landschaft. Die Hochebene ist überzogen mit Grasflächen und flachen Gesteinsplatten in den unterschiedlichsten Größen und Formationen. Unterbrochen wird die Ebene durch schroffe und karge Bergspitzen, die sich mit Vulkankrater-ähnlichen Berghügeln abwechseln. An den Rändern des immensen Plateaus lassen sich Schluchten und grünende Täler ausmachen, die dem Landschaftsbild eine weitere Nuance hinzufügen. In der Ferne, einen Tagesmarsch entfernt, kann ich bereits unser Tagesziel ausmachen, das Langental bei Wolkenstein. Ebenfalls in unserem Blickfeld: der Langkofel.
Wir, das sind übrigens mein Vater und ich, plus unser Bergführer für einen Tag, Manuel, den ich bereits eingangs erwähnte. Die Wanderung selbst plante ich seit geraumer Zeit, musste diese jedoch aufgrund der Pandemie immer wieder verschieben. Das Vorhaben, mit meinem Vater für ein paar Tage in die Berge zu gehen, entstand jedoch bereits vor einigen Jahren. Wie es so ist, die Zeit vergeht, Pläne, die gemacht werden, verschieben sich. Doch es lässt sich nicht alles auf ewig verschieben. Und so wurde der Plan zu unserer Tour letztlich konkreter. Früh stand in der Planung fest, wir möchten eine Hüttenwanderung machen.
Mein 78-jähriger Vater ist fit. Zweifel, er könne eine Bergtour mit zahlreichen Höhenmetern nicht packen, hatte ich zu keiner Zeit. Durch meine zahlreichen Reisen in die Alpenregionen, egal ob im Winter oder im Sommer, verdichtete sich schließlich unser Wunsch, die angedachte Bergtour in Südtirol durchzuführen.
Ladinische Genussmomente
Südtirol und insbesondere der Region rund ums Grödner Tal sind meine Familie und ich seit langer Zeit besonders verbunden. Das hat zum einen damit zu tun, dass mein Vater im Alter von 20 Jahren eine seiner ersten Skifahrten zum Langkofel (3.181 m) unternahm. Der markante Berg und Hauptgipfel der Langkofelgruppe blieb meinem Vater seit der Abfahrt stets in Erinnerung, wohl auch, weil die Abfahrt hinunter von der Langkofelscharte einen nachhaltigen Nervenkitzel bei ihm hinterließ. Die Scharte und die hinaufführende Seilbahn gibt es heute noch, die Abfahrt nicht mehr – zu gefährlich. Der Berg zählt für mich zu den Schönsten in der Alpenwelt und übt auch auf mich eine Art Magie aus, die zu beschreiben schwierig ist. Eine Art wohliges Gefühl löst der Anblick bei mir aus, so viel kann ich sagen. Umso schöner, dass wir an den vier Tagen unseres Aufenthaltes immer wieder auf den Langkofel stoßen werden. Aber alles der Reihe nach …
Bevor wir kraxeln, gilt es, eine Autofahrt von Köln nach Südtirol zu bewältigen. Diese zieht sich leider länger hin als gewöhnlich, der Brenner ist komplett dicht. Belohnt werden wir jedoch bei der Ankunft in Stern mit der unverstellten Sicht auf die sonnendurchtränkte Fanesgruppe. Sanfte Zufriedenheit stellt sich ein. Und als sei es der Belohnung nicht genug, steht uns vor dem morgigen Aufstieg am selben Abend das nächste besondere Schmankerl bevor – ein ladinisches Menü in einem der ältesten Bauernhöfe der Region. Das Lüch d’Alfarëi in Badia wird betrieben von Antonio und Rosa Piccolruaz, Restaurantbetreiber und Bauersleute in einer Person. Unterstützt werden sie von ihrer Tochter Lucia. Der Bauernhof aus dem Jahr 1286 besticht durch seinen ursprünglichen Charme und ist ein kleiner Geheimtipp für alle Kulinarikfans unter uns Wandersleuten. Serviert wird auf Vorbestellung ein traditionelles Menü in einer urgemütlichen Stube. Von „Panicia cun tutres“ – Gerstensuppe mit Tirtlan – über leckeres Fleisch und Knödel bis hin zu Cajincí – Schlutzkrapfen – sind bekannte Südtiroler Speisen Teil eines Fünf-Gänge-Menüs, welches für alle Gäste gleich serviert wird. Veredelt wird der Gaumengenuss durch einen guten Tropfen Lagrein. Eine perfekte Einstimmung auf den morgigen ersten Wandertag.
Eintauchen in die Bergwelt
Nach einem tiefen und traumlosen Schlaf erwache ich mit den ersten Sonnenstrahlen und genieße bei einer ersten Tasse Kaffee den Blick auf die Dolomiten. Beim Frühstück in unserem Hotel in Stern besprechen wir die Optionen unserer ersten Etappe, die uns zur Gardenacia-Hütte in 2.050 Metern Höhe führen soll. Den Rucksack für zwei Tage gepackt, marschieren wir los. Im Bewusstsein, dass wir uns noch an die Höhe gewöhnen müssen und uns zudem eine lange Wanderung bevorsteht, entscheiden wir uns, für ein kurzes Teilstück von 350 Höhenmetern einen Sessellift zu benutzen. Eine kluge Entscheidung, wie sich im Verlauf der Wanderung noch herausstellen sollte.
Der Sessellift spuckt uns an der Gardenacia-Bergstation wieder aus. Wir folgen bei strahlendem Sonnenschein dem Wanderweg 11, der sich entlang eines Bergrückens schlängelt und uns linksseitig mit fabelhaften Ausblicken auf die Fanesgruppe belohnt.
Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Wegzeit öffnet sich bergan eine steile Scharte, die es fortan zu erklimmen gilt. Schritt für Schritt folgen wir dem serpentinenartigen schmalen Trail, der die erste körperliche Herausforderung unserer Tour darstellt. Es geht langsam voran, immer wieder machen wir eine kurze Pause, auch um regelmäßig die imposanten Ausblicke genießen zu können. Warum auch den Berg hochwetzen? Es wäre viel zu schade.
Nach etwa einer Stunde haben wir die Scharte erklommen und stehen buchstäblich im Schweiße unseres Angesichts auf einer Anhöhe, unmittelbar vor unserem nächtlichen Domizil, der Gardenacia-Hütte.
Die Hütte ist an diesem Nachmittag gut besucht. Zahlreiche Tagesausflügler nutzen die sonnenüberflutete Terrasse der exponierten Hütte vor dem Abstieg ins Tal für ein kühles Getränk oder eine Tiroler Spezialität. Beides wird sich innerhalb der nächsten Stunde auch in unseren Bäuchen wiederfinden. Bevor wir endgültig in den Erholungsmodus wechseln, sammeln wir weitere Höhenmeter, erkunden noch etwas die Umgebung der Hütte sowie einen Teil des Wanderweges für den kommenden Tag.
Kernige Typen und einsame Höhenwege
In der Stube der Hütte begrüßt uns am nächsten Morgen Manuel Agreiter, seines Zeichens Bergführer und Betreiber der Kostnerhütte. Er ist ein drahtiger Kerl, und in den folgenden Stunden erfahren wir vieles über die Region, die umliegenden Berge und seine Kletterpassion. Manuel hat so ziemlich jeden hohen Berg dieses Planeten bestiegen und läuft ununterbrochen erzählend und gestikulierend vorneweg. Mein Vater dahinter, ich folge mit der Kamera.
Manuel gibt uns tiefe Einblicke in die Natur und teilt uns seine Sorgen mit, die Dolomiten könnten unter einer Kommerzialisierung leiden. Seine Bedenken dem Massentourismus gegenüber sind nachvollziehbar. Für uns gilt es, einen Anstieg von 2.050 auf 2.600 Meter zu überwinden. Nicht steil, aber stetig. Wir folgen Wanderweg 15, welcher in das eingangs beschriebenen Plateau mündet. Für meinen Vater ist eine solche Bergwanderung in dieser Höhe die erste seines Lebens, und das mit fast 78 Jahren. Wie gestaltet sich die Wanderung wohl aus seiner Sicht? Würde er mit der etwas dünneren Luft Probleme bekommen, würden die Beine mitmachen?
Da er ein Tagebuch geführt hat, möchte ich ihn an dieser Stelle zu Wort kommen lassen: „So langsam legte sich meine Anspannung, denn eventuell aufkommende Müdigkeit stellte sich nicht ein. Stattdessen stellten sich neue Gedanken ein. Ich sagte immer wieder zu mir selbst: Mein Gott, wie schön ist Deine Welt! Meine Hoffnung, an einem Gipfelkreuz vorbeizukommen, erfüllte sich nicht. Das hätte den Rahmen der Wanderung gesprengt. Dann hätte ich diesen Gedanken in das Gipfelbuch geschrieben. Innerlich gerührt, wiederholte ich mir den Gedanken immer wieder: Mein Gott, wie schön ist Deine Welt. Angeblich wird dieser Gedanke (so oder ähnlich) von vielen Menschen in das Gipfelbuch geschrieben. Wahrscheinlich millionenfach. Mich wunderte, dass ich in dieser Bergwelt wie automatisch an Gott dachte. Wie kommt es, dass wir Menschen die Bergwelt als „schön“ empfinden? Empfinden die Kühe, Schafe und Murmeltiere, die uns auf dieser Wan- derung begegneten, dies auch? Wahrscheinlich nicht. Als Mann, der in seinem Berufsleben mit Elektrotechnik zu tun hatte, sind mir logische Zusammenhänge, auch in der Natur, gut verständlich. Auch die geologische Entstehung der Dolomiten vor Millionen Jahren ist nicht schwer zu verstehen. Wenn wir Menschen diese Bergwelt als schön empfinden und dies Gott in die Schuhe schieben, mir soll es recht sein. Wir durchwanderten eine Landschaft, die allgemein als Mondlandschaft beschrieben wird. Einige Bergspitzen sind sogar vulkanischen Ursprungs. Viele Kilometer weit nur wir drei: Manuel, Ralf und ich. Was für ein tolles Gefühl.“
Zur Mittagszeit erreichen wir die Puez-Hütte (2.450 m). Und wieder wird Gott ins Spiel gebracht. Der Hüttenwirt antwortet auf die Frage, wie er als Einheimischer die ihn umgebende Bergwelt sieht: „Der liebe Gott hat es gut mit uns gemeint.“ Nach einer kurzen Mittagspause beginnen wir mit dem Abstieg von der Puez-Hütte und machen uns über den Dolomiten-Höhenweg 2 auf nach Wolkenstein. Was zunächst noch romantisch anmutet, wird mit der zunehmenden Steilheit und dem lang andauernden Abstieg für meinen Vater schwieriger. Für einen durchtrainierten Bergwanderer kein Problem. Aber für ihn, der zwar lange Wanderstrecken im Bergischen Land bei Köln gewohnt ist, bereitet dieser Abstieg immer mehr Probleme. Jeder Schritt ist anders und muss überlegt werden. Wie beschreibt er es in seinen Notizen? „Meine Oberschenkelmuskulatur wurde immer müder. Die Knie fühlten sich wie Pudding an.“ Sportlich und ehrgeizig, wie er ist, bewältigt er den Abstieg letztlich mit Bravour. Das Langental, eine grüne Oase inmitten einer länglichen Schlucht, empfängt uns mit seinem kühlenden Schatten. Was folgt, sind eine warme Badewanne, um die Beine zu entspannen, und kulinarischer Genuss. Und so schließt am Abend ein fantastisches Fünf-Gänge-Menü im Hotel „Sun Valley“ mit Blick auf den Langkofel unsere Höhenwanderung auf wunderbare Weise ab. A s’udëi (ladinisch: auf Wiedersehen) in Südtirol!