GESUNDHEIT
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KLINIKDIREKTOR Prof. Bernd Löwe
„Die Verbindung zur Psyche ist im Magen-Darm-Trakt sehr eng.“
Prof. Bernd Löwe
Kaum eine Körperregion macht sich so oft bemerkbar: Jeder fünfte Erwachsene hat regelmäßig Bauchschmerzen. Die meisten Klinikeinweisungen durch Hausärzte, 22 Prozent, gehen aufs Konto der Verdauungsorgane. Für Betroffene ebenso unangenehm wie die Beschwerden ist dann oft die Ursachenforschung.
Eine Studie des Londoner King’s College ergab, dass 53 Prozent der gastroenterologischen Leiden nach dem Besuch spezialisierter Kliniken ohne klaren Befund bleiben – mehr als in anderen Bereichen wie etwa Dermatologie oder Neurologie. Hinterm Nabel liegt ein Rätselreich.
Schmetterlinge im Bauch
Dabei nimmt der Bauch eine zentrale Stellung ein, nicht nur wegen seiner Lage. „Der Magen-Darm-Trakt steht mehr als jedes andere Organsystem über Nerven, Hormone und das Mikrobiom mit unserem Gehirn im Austausch“, so Prof. Bernd Löwe, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Emotionen wie Euphorie und Angst projizieren wir auf den Magen. Viele Redewendungen zeugen von seiner Verbindung zur Psyche: „Liebe geht durch den Magen“, wir haben „Schmetterlinge im Bauch“, sprechen von „Bauchgefühl“ und kennen Sorgen, die „auf den Magen schlagen“. Von Ereignissen wird einem übel, sie verderben den Appetit, manches finden wir gar „zum Kotzen“.
„Diese Zusammenhänge sind gut erklärbar“, so Prof. Löwe. „Die Verbindung zur Psyche ist sehr eng im Magen-Darm-Trakt.“ Hektik lässt Magensäure überschießen, Furcht legt die Verdauung lahm, und innere Konflikte können zu Erbrechen führen. „Von Stress kann prinzipiell der ganze Körper betroffen sein, der Magen und auch der Darm sind jedoch besonders empfindlich“, sagt der Spezialist für psychosomatische Erkrankungen.
Die erste Schilderung von Darmerkrankungen findet sich auf dem altägyptischen Papyrus Ebers aus dem 16. vorchristlichen Jahrhundert. Mehrere Spalten widmet die medizinische Buchrolle der Problemzone Bauch, auch der Diagnose durch Abtasten und Erfragen. Wärme, Liegen und Wacholderbeeren gehören zu den Therapieempfehlungen, manche klingen erstaunlich aktuell. Obwohl die Medizin inzwischen ein großes Stück weiter ist, bereitet die Diagnose noch immer Schwierigkeiten. „Das führt zu viel Frust auf Patientenseite“, weiß Psychosomatiker Prof. Löwe. Wenn die Fachkollegen nichts finden, heißt es oft: Dann muss es wohl psychisch sein. „Das kann zwar stimmen, aber es ist ein häufiger Fehlschluss anzunehmen, wenn nichts Körperliches gefunden wird, müsse das Problem eine psychische Ursache haben. Beschwerden sind in der Regel nicht entweder körperlich oder psychisch, sondern sowohl als auch. Vor allem ist das Nichtfinden einer körperlichen Ursache nicht gleichbedeutend mit ‚der hat nichts‘! Schmerzen und Beschwerden sind real, die Betroffenen leiden“, betont Löwe. Zusätzlich belastend sind die Einschränkungen im Alltag, wenn etwa die Furcht vor Blähungen zum sozialen Rückzug führt.
Landkarte der Schmerzsignale
Wo tut’s weh? Symptome zu beobachten ist der erste Schritt. Die Schmerzrezeptoren der Magengegend melden Entzündungen oft als dumpfen Druck. Sich ausbreitender Schmerz ist immer ein Alarmsignal
Der Bauch macht oft sein eigenes Ding
Kein anderes Symptom kann wie Bauchweh auf derart viele Krankheiten hinweisen. Magen-Darm-Infekt, Gallenstein, Unverträglichkeiten, Rückenprobleme, sogar Herzinfarkt: Weil im Bauchraum besonders viele Nerven verlaufen und nah beieinanderliegen, werden alle möglichen Erkrankungen hier wahrgenommen (siehe Grafik oben rechts). Akute, neu auftretende Beschwerden können Patienten meist gut lokalisieren, doch je länger sie andauern, desto verschwommener werden sie. „Das Eingeweide-Nervensystem ist ein Geflecht, dessen Fasern unabhängig von anderen Nerven arbeiten“, erklärt Prof. Löwe. „Es ist stark von Sympathikus und Parasympathikus beeinf lusst, die ebenfalls autark sind. Das Gehirn hat darauf keinen Zugriff. Sonst könnten wir Blähungen steuern.“ 100 Millionen Nervenzellen sind im Magen-Darm-Trakt vernetzt, bei jedem Menschen anders – das Schmerzempfinden ist dadurch äußerst individuell.
Der Weg zur Diagnose führt durch Gefühle
„Der gesamte Trakt reagiert sehr sensibel auf äußere Faktoren wie Stress“, so Prof. Löwe. Sorgen und Druck melden sich oft als Magenweh. Frust und Streit schlagen ebenso auf den Magen wie unbekömmliches Essen. Brechreiz auslösen können Gallensteine, ein Magengeschwür oder eine wiederbelebte traumatische Erfahrung.
Blutuntersuchungen, eine Endoskopie und bildgebende Verfahren gehören zum Handwerkszeug, um dem Schmerz auf die Spur zu kommen. „Ein Blähbauch, Schmerzen oder Durchfall können auf einer Laktoseunverträglichkeit beruhen“, erklärt Prof. Löwe. „Wenn das ausgeschlossen wurde, forschen wir weiter.“ Andererseits können Patienten mit einer entzündlichen Darmerkrankung beschwerdefrei sein, bis sie plötzlich Schmerzen empfinden. „Auslöser von psychosomatischen Erkrankungen sind häufig Übergänge im Leben, etwa vom Beruf in die Rente, und andere biografische Einschnitte“, so Prof. Löwe. „Je länger Beschwerden bestehen, desto stärker werden die Anteile der Psyche.“
Um bei Erkrankungen, die sich auf der körperlichen – somatischen – Ebene zeigen, auf zugrunde liegende oder verstärkende seelische Ursachen zu kommen, sind andere Fragen als üblich nötig: „Werden die Bauchschmerzen stärker an Wochenenden oder bei der Arbeit?“ erkundigt sich etwa ein psychosomatisch orientierter Arzt. „So loten wir aus, ob und wie Beschwerden mit der Lebenssituation assoziiert sind“, schildert Prof. Löwe.
Jeder nimmt Symptome anders wahr, das Erleben prägen Erfahrungen und familiäre Vorbilder. An der Ursache für den Schmerz forschen Internisten, Chirurgen, Mikrobiologen, Immunologen und Psychologen: Wie beeinflusst die Psyche den Darm und umgekehrt? Welche Rolle spielen Bakterien? Woher kommt ein Reizdarm? Viele Erkrankungen können gut behandelt werden, doch über die Ursachen im Einzelfall ist das Wissen ungenügend.
Was guttut und oft erst wieder gelernt werden muss, ist Folgendes: der Wechsel von Erholung und Anspannung, Genuss in Maßen, guter Schlaf, eine Tagesstruktur, Bewegung sowie soziale Teilhabe. Wer in diesen Bereichen eine Balance erreicht, beruhigt den Magen-Darm-Trakt und stärkt die Psyche. Auch Hausmittel wirken: Die Wärmflasche vermittelt Geborgenheit und dimmt Schmerzen, ob von Prüfungsangst oder Reizdarm verursacht. Ein Spaziergang bringt neue Einsichten und löst Verstopfung. Ein Kamillentee mit Zwieback beruhigt die gestresste Magenschleimhaut, und wir fühlen uns behütet wie damals, als wir bei jedem Seelenschmerz riefen: „Mama, Bauchweh!“
BETTINA KOCH