... auch die Körperfunktionen. Ein kalter Wickel etwa kühlt nicht nur die heiße Wade, sondern senkt die Körpertemperatur und ist somit hilfreich bei Fieber, ganz ohne Nebenwirkungen. Ein warmes Vollbad wiederum kann Schmerzen lindern und beruhigt. Ob kalt, heiß oder wohltemperiert, ob als Eis oder als Dampf – Wasser übt auf jeden Menschen im wortwörtlichen Sinn einen starken Reiz aus. Sobald Wasser, in welcher Form auch immer, die Haut berührt, kommt ordentlich Bewegung in den gesamten Organismus. Warum ist das so?
→ Der kalte Wickel stößt die Fähigkeit des Körpers an, seine Temperatur zu regulieren. Wenige Sekunden nach dem Kaltreiz verengen sich die Blutgefäße. Die Durchblutung nimmt ab, und die Haut wird blass, während gleichzeitig Blutdruck, Atemfrequenz und Muskelspannung steigen. Doch schon bald kommt es zu einer zweiten, gegenläufigen Reaktion: Gesteuert durch Nerven und Hormone wird die Haut stark durchblutet und leuchtet rosarot, der Blutdruck sinkt, die Muskeln entspannen sich. Zudem werden immunologische Reaktionen in der Haut und in den Drüsensystemen in Gang gesetzt. Ein angenehmes Wärmegefühl breitet sich aus.
→ Dampf bäder oder warme Bäder lassen den Körper hingegen ganz anders reagieren: Die Gefäße weiten sich, die Durchblutung steigt an, der Blutdruck sinkt und die Muskeln entspannen sich sofort. Und weil das Nervensystem runterfährt, lassen auch Schmerzen augenblicklich nach. Solche Wärmereize helfen deshalb vor allem bei Rheuma und Stress sehr gut, da mit ihnen auch eine psychische Entspannung und Beruhigung einhergeht. Zudem wird der Stoffwechsel aktiviert, die Lungen und Nieren arbeiten besser.
Abhärtung stärkt die Abwehrkräfte
Ein Kältereiz stärkt die körpereigene Abwehr weitaus mehr als ein Wärmereiz. Der Grund: Auf der knapp zwei Quadratmeter großen Hautfläche befinden sich zehnmal mehr Rezeptoren für Kälte als für Wärme. Über viele Jahrhunderte galt deshalb vor allem kaltes Wasser als ideales Mittel, um Menschen vor schweren Infekten zu schützen. Seine positiven Gesundheitseffekte beobachteten Heilkundige schon sehr früh. So wendete der römische Arzt Antonius Musa 23 v. Chr. kalte Bäder an, um den ewig kränkelnden Kaiser Augustus zu heilen. Er gilt als der eigentliche Begründer der Wasserheilkunde.
Heute ist die sogenannte Hydrotherapie – benannt nach dem altgriechischen Wort hydro für Wasser – ein komplexes Naturheilverfahren, dem für die verschiedensten Beschwerden ein breites Spektrum therapeutischer Mittel zur Verfügung steht: Neben Wickeln, Kompressen und Packungen zählen Waschungen, Güsse sowie Teil-, Voll-oder Dampf bäder dazu. Ob Stoffwechselstörungen wie Diabetes, Gicht oder starkes Übergewicht, Rheuma oder Rückenschmerzen, Atemwegserkrankungen oder Magen-Darm-Beschwerden – mit Wasseranwendungen lässt sich eine Vielzahl gesundheitlicher Probleme lindern oder sogar ganz heilen. Allerdings braucht es dafür etwas Geduld. Damit die Behandlungen wirken, müssen sie regelmäßig etwa einbis zweimal täglich und mindestens vier Wochen lang durchgeführt werden.
In der frühen Neuzeit mit ihrer allgemeinen Wasserscheu war die Wasserheilkunde in Vergessenheit geraten. Aber Ende des 17. Jahrhunderts griff der Arzt Siegmund Hahn (1664–1742) wohltemperiert: die alten Heilkonzepte Stets übt Wasser einen verknüpfte sie mit seinen eigenen praktischen Erfahrungen. Sein Sohn Johann Siegmund Hahn (1696–1773) publizierte 1738 die erste deutsche Anleitung für Ärzte zur Hydrotherapie („Von Krafft und Würckung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“). Die beiden „Wasserhähne“ fanden zunächst wenig Beachtung. Erst der Bauer und selbsternannte Heiler Vinzenz Prießnitz (1799–1851) machte die Wasserheilkunde in Deutschland weithin bekannt. In seinem Wassertherapiezentrum soll er 30 000 Kranke, darunter viele Syphilis- und Tuberkulose-Patienten, geheilt haben. Allerdings gelang ihm dies mit recht drastischen Maßnahmen: So ließ er aus sechs Metern Höhe eiskaltes Gebirgswasser auf seine Patienten herabschütten, oder sie mussten fünf bis zehn Minuten in einer großen Wanne mit fließendem kalten Wasser sitzen.
Während Prießnitz die Medizin von seinen Methoden kaum überzeugen konnte, behielt die Bevölkerung seine Heilungserfolge durchaus positiv in Erinnerung. Deshalb fand die Wasserkur, die der Arzt und Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) im 19. Jahrhundert entwickelte, bei vielen Menschen schnell großen Anklang, zumal er selbst der leibhaftige Beleg war, dass man mit Wasser erfolgreich heilen konnte. Als junger Theologiestudent hatte er jeden Tag ein Bad in der kalten Donau genommen, um seine Tuberkulose-Erkrankung zu kurieren. Zwar war auch für Kneipp die Reiztherapie mit kaltem Wasser das effektivste Mittel, um Infektionen zu lindern und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren, aber seine Anwendungen waren weniger radikal und heftig als die von Prießnitz. Schließlich wollte Kneipp die schwächlichen Städter nicht vertreiben. „So mild wie möglich – so stark wie nötig“ hieß deshalb seine Devise.
Kalte Güsse, Wechselbäder, Waschungen: mit Kneipp’schen Wasseranwendungen heilen
Rund 100 Wasseranwendungen hat Kneipp beschrieben. Neben den von ihm mit einer Gartengießkanne verabreichten kalten Güssen zählen auch Wickel, wechselwarme Anwendungen, aufsteigende Teilbäder sowie Bäder des ganzen Körpers und Waschungen zu seinem umfangreichen Programm. „Nach Kneipps Vorstellungen sollten die Krankheitsstoffe dadurch aufgelöst, abtransportiert und ausgeschieden werden“, schreibt Professor Dr. Bernhard Uehleke („Das große Gesundheits- buch“, Trias Verlag). „Alle seine Wasseranwendungen haben allgemeine positive Effekte auf den Körper, aber insbesondere die kurz andauernden Kaltanwendungen trainieren die Gefäße und fördern die Durchblutung“, erklärt der Kneipparzt, der am Berliner Immanuel Krankenhaus mehrere Studien dazu durchgeführt hat.
Die verschiedenen Reizstufen der Wasseranwendungen
Kneippkur – schon der Gedanke an einen kalten Vollguss lässt manchen erschaudern. Damit sich der Körper langsam an die Reize gewöhnen kann, startet man in dieser Kur anfangs mit schwachen Impulsen. Nach einer gewissen Zeit kann die Reizstärke erhöht werden:
► Schwache Reize: Teilwaschungen des Ober- und Unterkörpers, Wechselbäder, kleine wohltemperierte Güsse (ca. 18–22 °C)
► Mäßige Reizstärke: Ganzkörperwaschung, Wassertreten, kaltes Halbbad (ca. 12–18 °C), Wechselgüsse, Teilwickel
► Starker Reiz: Größere kalte Güsse, heiße Anwendungen wie ein Lumbalguss oder heiße Blitzgüsse (40–43 °C), temperaturansteigende Teilbäder (33–39 °C), große Wickel, Dreiviertel- und Vollbäder mit kalter Abgießung
Wichtig zu wissen: Die Erstreaktion stimmt nicht immer mit dem Langzeiteffekt überein. So kann etwa unmittelbar nach kalten Güssen der Blutdruck steigen, nach regelmäßiger längerer Anwendung sinkt er aber dauerhaft.
„Wasser fördert die Zufriedenheit, das bedeutet, innerlich ausgeglichen zu sein und nichts anderes zu verlangen, als das, was gerade da ist.“
DR. THOMAS RAMPP
Bei regelmäßigen Anwendungen lernen die Blutgefäße, auf den Kaltreiz besser, also zweckmäßiger, zu reagieren. Der Körper wird immer weniger empfindlich. „Gleichzeitig sinkt die Neigung zu Gefäßverkalkung und Bluthochdruck erheblich“, so Uehleke. Dass Wasseranwendungen noch bei weiteren Beschwerden helfen, sei in evidenzbasierten Studien bewiesen worden, erklärt der Kneipp-Experte weiter. So habe eine Studie gezeigt, dass durch tägliche Wechselduschen und Kaltwasseranwendungen die Häufigkeit von Erkältungsinfekten um die Hälfte gesenkt werden konnte. Dies hat einen einfachen Grund: Die Nasenschleimhäute werden besser durchblutet und befeuchtet, weil sie mehr Sekret produzieren. „Damit bieten sie Erkältungsviren weniger Angriffsfläche. Denn die Viren können nicht mehr richtig andocken“, erläutert der Arzt. Eine andere Studie zeigt, dass auch Wechseljahrsbeschwerden wie Schlafprobleme zurückgehen, wenn die Teilnehmerinnen zwei Mal täglich eine kalte Wasseranwendung durchführten. Insgesamt verbesserte sich das allgemeine Wohlbefinden der Frauen.
Eine Wohltat auch für die gestresste Seele
Durch eine mehrwöchige Kneipp’sche Kaltwasserkur wird auch die Seele widerstandsfähiger. Depressionen, stressbedingte Erschöpfung und Schlafstörungen gehen zurück. Heute kann die Medizin erklären, warum das so ist: „Während anfangs eine Kaltwasseranwendung zu einer für den Körper noch erheblich belastenden Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin führen, steigen diese am Ende der Kur nur noch geringfügig an“, weiß Uehleke. Die kalten Anwendun- gen stabilisieren langfristig das vegetative Nervensystem, und der Einfluss des Parasympathikus, der für Regeneration und Erholung zuständig ist, nimmt dabei zu. Die Atmung und der Schlaf werden tiefer. Auch die Verdauung läuft besser.
Thalasso – die Heilkraft des Meeres
Was dem Deutschen die Kneipp‘sche Wasserkur, ist dem Franzosen die Thalasso-Therapie. Durchgeführt wird sie mit den Bestandteilen des Meeres. Schon der altgriechische Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) hatte erkannt, dass Meerwasser bei Ekzemen, Ischiasbeschwerden und Rheuma helfen kann. Doch erst die Doktorarbeit des englischen Arztes Richard Russell weckte größeres Interesse an der Heilkraft des Meeres.
„Ich glaube, dass ich kein Heilmittel anführen kann, das sicherer heilt als Wasser.“
SEBASTIAN KNEIPP
Den Namen Thalasso-Therapie prägte allerdings erst der französische Arzt La Bonnadière in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Thalassa ist der altgriechische Name für das Meer.
Bekannt wurde diese spezielle Form der Reiz- und Hydrotherapie in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, als in den mondänen Seebädern der Normandie Thalasso-Kuren angeboten wurden. Nach und nach wurden die therapeutischen Behandlungen erweitert und systematisiert. „Auch Durchblutungsstörungen, Knochenkrankheiten, Kreislaufprobleme, Stoffwechselstörungen und der moderne Dauerbrenner Burn-out stehen heute auf der Indikationsliste“, erklärt der Arzt und Klimatherapeut Dr. Thomas Rampp in seinem Buch „Wie Wasser heilt“ (Knaur). Gegen Burn-out und Erschöpfungszustände helfen die kurmäßigen Anwendungen vor allem deshalb so gut, weil sie das vegetative Nervensystem in Balance bringen und somit für einen erholsamen Schlaf und für Entspannung sorgen.
Seit vielen Jahren werden Thalasso-Kuren deshalb immer öfter zum Stressabbau, zur nachhaltigen Erholung und nicht zuletzt zur Straffung des Bindegewebes gebucht. Die Behandlungsmöglichkeiten reichen von Massagen mit Meeresalgen, Wechselbädern mit kaltem oder warmem Meerwasser über Packungen mit Schlamm bis hin zu Inhalationen. Nirgendwo lässt sich diese Reiztherapie daher besser machen als direkt am Meer. Denn nicht nur die Anwendungen mit Meerwasser, Algen und Schlick wirken heilsam, sondern auch die UV-Strahlung und die salzhaltige Meeresluft. Lange Strandspaziergänge und Bewegungstherapie in der Brandungszone lassen belastende Hautbeschwerden wie Schuppenflechte und Neurodermitis relativ rasch verschwinden. Denn dabei legen sich die in der Luft schwebenden Salztröpfchen, die Aerosole, auf die Haut und lösen die Schuppen. Die Haut wird wieder glatter. „Als heilsam erweist sich das Brandungsaerosol auch bei chronischen Atemwegserkrankungen. Denn die Meeresbrandung wirkt wie ein Freiluft-Inhalatorium“, erklärt Dr. Rampp. „Das gilt besonders an der Nordsee. Denn dort ist das Brandungsaerosol hyperton und wirkt damit verflüssigend auf das Bronchialsekret.“
Eine Thalasso-Kur dauert in der Regel eine Woche, eine Intensivkur bis zu zwei Wochen. Mittlerweile gibt es nicht nur in Frankreich, sondern auch in Tunesien und am Schwarzen Meer eine große Zahl an Thalasso-Zentren. Das größte in Deutschland befindet sich übrigens auf der Insel Norderney.