Carline Brouwer: Ja, es stand im Raum. Natürlich musste ich trotzdem nach Amerika, um das Team kennenzulernen. Ich habe zwar einiges in Deutschland gemacht, aber der Original-Regisseur Darko Tresnjak (Hartford Stage) und das Team mussten trotzdem entscheiden, ob es passt. Das war auch in meinem Alter noch aufregend und spannend. Nun bin ich aufgenommen als Teil des Teams und verantwortlich für die europäischen Fassungen. (strahlt)
blimu: Dann inszenieren Sie auch die spanische Erstaufführung in Madrid?
CB: Ja, überall in Europa. Wo immer »Anastasia« gespielt wird.
blimu: Ist das für Sie eine Ehre?
CB: Es ist eine große Ehre und ich bin sehr froh, weil ich die Show liebe.
blimu: Was fasziniert Sie an der Geschichte?
CB: Es ist die Geschichte einer sehr starken, jungen Frau. Das finde ich immer schön als Frau, wobei es auch sehr spannende Männerrollen im Stück gibt.
Wir sehen auf ein junges Mädchen, das ihren Weg geht. Ihre ganze Familie ist ermordet worden – etwas, was es heute auch noch gibt. Im Grunde ist sie ein Flüchtling. Sie hat ihr Gedächtnis verloren, weiß nicht mehr, wo sie herkommt. Sie versucht, herauszufinden, wo ihre Wurzeln sind und wohin sie gehört. Das Stück besitzt eine Aktualität, die mich berührt.
Mir gefällt auch, wie sie ihren Weg sucht und dabei ehrlich und verletzbar in der Welt steht. Sie hat Angst, spielt aber nie ein Spiel, um etwas zu erreichen.
Anyas Weg ist spannend, aufregend und romantisch. Obwohl manches verwirrend für sie ist, sie oft einsam ist und Angst hat, geht sie diesen Weg und findet dabei zu sich selbst. Dabei hört sie bis zum Ende der Show immer auf ihr Herz. Nur weil sie ehrlich zu sich selbst ist, gelangt sie ans Ziel. Ihr geht es nicht um Geld oder Ruhm. Sie möchte nur wissen, wer sie ist und wohin sie im Leben gehört. Und das ist nicht einfach.
Ich habe Respekt vor dieser Frau.
blimu: Was ist Ihnen besonders wichtig bei Ihrer Inszenierung?
CB: Mir ist immer wichtig, dass ich ihr glaube. »Wahrhaft« ist ein Wort, das ich in der Probezeit sehr häufig benutze. Natürlich gibt es im Musical auch Glitzer und Glamour – das darf alles sein, muss es manchmal sogar – doch ich muss der Figur immer glauben können. Auch ein Darsteller in meinen Proben darf fallen und wieder aufstehen, sich selbst sehen lassen und vertrauen. Ich versuche immer, einen Raum zu kreieren, wo es sicher ist, wo sich die Darsteller ausprobieren und fallen lassen können. Sie dürfen auch mal nicht gut sein. Das ist der einzige Weg, damit der Cast entdecken kann, worum es geht. So erkenne auch ich, was spannend ist an jedem Darsteller. Es ist kein Klischee und nicht nur oberflächlich, ich möchte in die Tiefe gehen. Super-wichtig ist, dass auch das Publikum mir glaubt, den Darstellern glaubt. Dass es mitgeht auf die Reise und nicht nur schöne Kostüme sieht – und die Kostüme sind sehr schön, ebenso Bühnenbild und Ausstattung.
blimu: Eine reiche Ausstattung kann manchmal auch ablenken, wenn die Darsteller dagegen nicht bestehen.
CB: Ganz genau. Jede Show muss Herz haben. Und das ist nicht einfach, wenn man es acht Mal in der Woche spielt. Ich möchte mit den Darstellern zusammen einen Weg finden, dass es immer da ist. Das ist mein Ziel.
blimu: Was ist das Besondere an dem Stück von Stephen Flaherty, Lynn Ahrens und Terrence McNally?
CB: Ich finde es so reich, so detailliert. Bei jedem weiteren Hören der Musik finde ich immer neue Details. Das ist so gut durchdacht und alles ist miteinander verbunden. Es gibt viel Abwechslung und Tiefe in der Musik. Sie ist voller Überraschungen. Obwohl ich sie so häufig höre, wird es mir nie langweilig. Nein, ich freue mich immer wieder, wenn die Arbeit anfängt und ich ein Lied 100-mal hören darf.
blimu: Was sind für Sie die besonders starken Songs, die die Geschichte vorantreiben? Manche kommen aus dem Film, aber es gibt auch die 16 neuen Titel, die eigens für die Bühnenfassung geschrieben wurden.
CB: ›Journey to the Past‹ (im Deutschen: ›Reise durch die Zeit‹) ist natürlich ein wunderschöner und starker Song. Doch mein Geschmack verändert sich. Ich mag sehr ›Stay, I Pray You‹ über die Flüchtlinge, die aus Russland weggehen. Sie stehen auf dem Bahnhof und nehmen Abschied von ihrem Land. Sie wissen, wenn sie nach Paris reisen, können sie nie mehr zurückkommen. Der Zug fährt gleich ab und sie müssten eigentlich einsteigen, aber sie stehen da. Der Abschied von ihrem Land fällt ihnen schwer. Das ist so berührend.
Doch ich mag auch ›My Petersburg‹, weil der junge Dimitry seine Stadt hasst und liebt, aber weiß, er muss jetzt gehen. Nichts wird sich ändern, wenn er bleibt. Doch das ist seine Stadt.
Ich mag sehr viele Songs, das ist mein Problem. Es gibt keinen Favoriten, sondern zahlreiche Titel, die hängen bleiben, die »Ohrwürmer« sind.
blimu: Von wem stammt die deutsche Adaption, die wir in der Präsentation von Judith Caspari gehört haben?
CB: Sie ist von Wolfgang Adenberg. Er hat unter anderem auch »Rocky« und »Love Never Dies« ins Deutsche gebracht.
blimu: Inzwischen ist die Besetzung der drei Hauptrollen bekannt. Judith Caspari verkörpert Anya, Milan van Waardenburg spielt Dimitry und Mathias Edenborn übernimmt die Rolle von Gleb. Was bringt jeder von den Dreien für seine Rolle mit?
CB: Judith Caspari – Für mich ist sie eine starke, junge und schöne Frau mit einer himmlischen Stimme. Es umgibt sie ein großes Geheimnis, ein Mysterium und ihr Auftreten hat etwas Königliches. Gleichzeitig ist sie geerdet, natürlich, ehrlich und besitzt eine beeindruckende Präsenz.
Ich kann sie mir gut vorstellen als eine junge Frau, die darum kämpft, zu ihren Wurzeln zurückzufinden. In ihrem Überlebenskampf auf der Straße blitzt immer wieder die königliche Kinderstube auf. Judith ist ein Rohdiamant, direkt aus der Ausbildung, bereit, die Bühnen zu erobern.
Milan van Waardenburg – Der junge, erstklassige Vollblut-Darsteller. Mit all den Qualitäten, von denen wir bei einem jungen Helden träumen. Er ist einer der besten Sänger in seinem Alter, besitzt Tiefgang, Charisma, Humor, ist angriffslustig und sieht zudem noch gut aus. Milan ist voller Energie und Enthusiasmus. Er kann ein Straßenkämpfer sein, aber auch ein Prinz. Mathias Edenborn – Ich freue mich sehr darauf, wieder mit ihm zu arbeiten. Wir haben bei »Ich war noch niemals in New York« in Zürich zusammen gearbeitet und es war eine spannende Reise. Der innere Kampf des Gleb ist enorm und
Mathias ist grandios darin, all diese Schichten der Rolle zu spielen. Er ist kein klischeehafter Bösewicht, sondern jemand, bei dem man sich vorstellen kann, dass Anya sich in ihn verliebt. Er strahlt Autorität, etwas Gefährliches und Sex-Appeal aus und ist ein großartiger Darsteller und Sänger mit seinem eigenen, einzigartigen Stil.
Mathias ist ein professioneller Fußballspieler, der ein Musical-Star geworden ist … eine faszinierende Mischung, die nur überraschende Momente auf der Bühne bringen kann.
blimu: Vielen Dank, dass Sie unsere Leser ein wenig an Ihrer Liebe zum Stück »Anastasia« teilnehmen ließen. Alles Gute für die Probenzeit und die Premiere am 15. November 2018 in Stuttgart!
Judith Caspari bei der Präsentation als Anya
Foto: Sandra Reichel