... perfekt an diese Bedingungen angepasst. Sie gehören zur Familie der Hirsche und leben vor allem in den nördlichsten Regionen Europas, in Sibirien und auf arktischen Inseln wie Spitzbergen. Bis nach Nordamerika reicht ihr eisiges Reich, dort werden sie Karibus genannt. „Die meisten Rentierherden sind domestiziert, das heißt, sie leben mehr oder weniger frei in der Obhut von Menschen“, er- klärt Eva Klebelsberg, Referentin für die Russische Arktis beim WWF Deutschland. „Die größte noch wilde Herde gibt es in der Taimyr-Region im Norden Russlands.“
Wenig Licht in der endlosen Polarnacht? Kein Problem! Die Hirsche der Arktis stellen auf Winterbetrieb um: In sonnigen Monaten leuchten ihre Augen goldbraun, jetzt wechselt die Farbe zu Dunkelblau. Das einfallende Licht verteilt sich so auf mehr Sehzellen. Eine solche Anpassung ist von keinem anderen Säugetier bekannt.
Zu den genialsten Erfindungen gehört das Winterfell der Rentiere. Es wächst extrem dicht und besteht aus hohlen Röhrenhaaren. Dadurch entsteht ein Luftpolster, das auch bei minus 50 Grad noch isoliert. Es schützt gleichzeitig selbst vor eiskaltem Wasser und gibt Auftrieb beim Durchschwimmen von Flüssen. Früher wurden die extrem leichten Rentierhaare sogar zum Füllen von Rettungswesten benutzt.
Eiskalte Luft? Auch dagegen hat die Natur ein Patent parat. Die Nase der Rentiere wirkt wie ein Durchlauferhitzer: Sie ist stark durchblutet, hat durch ihre besondere Struktur im Inneren eine vergrößerte Oberf läche. Die eingeatmete Luft wird erwärmt, bevor sie die Lungen erreicht.
Rentierhufe ziehen sich bei Kälte zusammen und werden härter. Damit bieten sie auf gefrorenem Untergrund sicheren Halt. Die TV-Doku zeigt in eindrucksvollen Bildern auch, wie die Tiere damit unter der dichten Schneedecke nach Futter graben. In warmen Monaten stehen Gräser, kleine Sträucher und Blütenpf lanzen auf dem Speiseplan, jetzt liefern die Böden nur noch karge Kost: Flechten, Pilze und Moose. Am leichtesten finden die Tiere in den Bergregionen Nahrung, dort weht der Wind den Schnee fort. Ihr Magen kann die schwer verdaulichen Flechten zwar verwerten, doch viel Energie liefern sie nicht. Deshalb muss der Stoffwechsel massiv heruntergefahren werden. Wer sich im Sommer nicht genug Fettreserven angefressen hat, wird die Polarnacht kaum überstehen.
Gruppenreise in den Süden
Wichtigste Überlebensstrategie bleibt die gemeinsame Wanderung. Das ganze Leben der Rentiere verläuft im Takt dieser jährlichen Reisen von den küstennahen Sommerweiden im Norden zu den Winterweiden im Süden. Dabei legen sie bis zu 3000 Kilometer zurück. Die größte dokumentierte Herde zog in den 1980ern durch den Osten Kanadas: knapp 900.000 Tiere.
Der Polarnacht trotzen die Rentiere, dem Klimawandel allerdings nicht. Ein W WF-Report belegt, dass er ihnen mehrfach zu schaffen macht. Durch steigende Temperaturen wird es für Wilderer immer einfacher, auch in entlegene Gebiete etwa der russischen Arktis vorzudringen. „Jagd auf die Rentiere gibt es schon lange, ohne dass die Population an sich gefährdet war“, so Eva Klebelsberg. „Doch seit einigen Jahren bemerken wir einen massiven Anstieg der Wilderei.“ Die Jäger lauern an Flüssen, erschießen die Tiere von Booten aus oder sägen ihnen bei lebendigem Leib das Geweih ab. „Die Geweihe im Bast werden zu Pulver verarbeitet und vor allem in China als Heilmittel verkauft“, erklärt die WWF-Expertin. „Zungen und Fleisch sind als Delikatesse gefragt.“
Weitere Probleme: Breite Flüsse, die früher zugefroren waren, müssen jetzt auf den Wanderrouten durchschwommen werden. Das eisige Wasser gilt aber als tödliche Falle für neugeborene Kälber. Statt Schnee fällt zudem immer öfter Regen auf die Schneedecke und sorgt für eine Eiskruste, die von den Tieren auf ihrer Nahrungssuche nur mit hohem Kraftaufwand oder gar nicht durchbrochen werden kann. Viele neue Gefahren bedrohen eine faszinierende Tierart, die perfekt an ihr altes Reich im hohen Norden angepasst ist.
KAI RIEDEMANN