... Hans. Jetzt ziehen beide die Notbremse – auch Hans wirft seine Hausmann-Pläne über den Haufen, denn in seiner Firma gibt es ebenfalls Stelleneinsparungen. Hans hat Angst, als Vater in Elternzeit den Fuß nicht mehr in der Tür zu haben und schnell auf die rote Liste zu kommen. Das Paar vereinbart: Nach Ellis erstem Geburtstag wollen beide wieder arbeiten. Teilzeit und/ oder Homeoffice macht dann der, der dafür im Betrieb die besseren Bedingungen aushandeln kann.
Das Paar besucht drei städtische Krippen und lässt sich vormerken. Das Ergebnis ist ernüchternd: Trotz zweier neuer Kitas im Stadtviertel ist die Wartezeit ungewiss, denn immer mehr Eltern wollen und müssen ihre Kinder unterbringen. Erin und Hans sind nicht alleinerziehend und auch sonst kein Härtefall, aus Sicht der Kita-Leitung „müssen“ sie nicht beide arbeiten. Eine Kinderfrau kommt aus Kostengründen nicht in Frage, ein Aupair- Mädchen können die beiden in ihrer Wohnung nicht unterbringen.
Hans sucht nach Tagesmüttern. Auf eine Anzeige in der Tageszeitung melden sich auch zwei Frauen, deren Deutsch so schlecht ist, dass eine Verständigung am Telefon fast unmöglich ist. Die nächste Frau klingt kompetent, wohnt aber zu weit weg. Eine weitere Anruferin mit drei Kindern ist empört, als Erin sie fragt, welche Ausbildung sie für den Job als Tagesmutter qualifiziert. Sie sei schließlich Mutter, ranzt sie Erin an und legt auf. Hans geht zu einer Familienbildungsstätte, dort gibt es eine Tagesmuttervermittlung. Hans zahlt eine Gebühr und kommt mit seinen Daten in eine Kartei. Ob und wann sie dem Paar helfen können, darüber wollen die Vermittler keine Prognose abgeben. Eine Nachfrage bei den kommunalen Krippen verläuft ohne Erfolg: Es ist noch kein freier Platz in Sicht. In einem benachbarten Ort öffnet eine neue Kita. Der Träger ist ein Verein, die Betreuungszeiten sehr individuell. Auch das Wochenende kann man buchen. Aber die Kita ist teuer und der Weg dorthin würde einen enormen Zeitaufwand bedeuten.
Das Kind zum ersten Mal in fremde Hände zu geben, fällt vielen Eltern schwer.
Erin bekommt allmählich Panik. Ihr Teamleiter will wissen, wann sie zurückkommt und an wie vielen Tagen die Woche. Mit gelegentlicher Homeoffice-Zeit ist er aber einverstanden. Hans stößt bei seinem Chef auf wenig Verständnis, als er nach Teilzeit fragt. Er und Erin wollen am liebsten beide 70 Prozent arbeiten. Nach weiteren drei Monaten kommt endlich ein Anruf aus dem Familienbildungszentrum. Die Familie besucht drei Frauen zu Hause. Mit allen würden sie spontan klarkommen, doch Anna, eine gelernte Erzieherin, wohnt nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt. Sie hat eine zweijährige Tochter und möchte zwei Kinder in Tagesspflege nehmen. Etwa 700 Euro monatlich wird die Betreuung für drei Tage in der Woche kosten.
Misstrauen bei Fremdbetreuung
Im Vergleich zu den guten Betreuungszahlen der europäischen Nachbarn holt Deutschland inzwischen langsam auf. Mittlerweile wird jedes fünfte Kind unter drei Jahren außer Haus betreut. Im März 2010 besuchten 472.000 Kinder Kindertageseinrichtungen oder öffentlich geförderte Kindertagespflegestätten. Bis zum Jahr 2013 soll es bundesweit im Durchschnitt für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz geben – rund ein Drittel der neuen Plätze werden in der Kindertagespflege geschaffen.
Zwar ist es inzwischen normaler geworden, auch ein kleines Kind schon in die Krippe oder zur Tagesmutter zu geben. Trotzdem ist die Betreuung von Kindern unter drei Jahren noch immer nicht nur eine Frage der Struktur, des Angebots und des Geldes, sondern auch eine ideologische. „Frühe Fremdbetreuung“: Allein dieser Ausdruck zeigt das große Misstrauen, das vor allem in Westdeutschland gegenüber einer Betreuung außerhalb der Kleinfamilie herrscht. Das schade nicht, sondern fördere im Gegenteil die soziale, kognitive und sprachliche Entwicklung des Kleinkinds, sagen die einen. Das Kind werde ohne Dauer präsenz von Mutter oder Vater zum eingeschüchterten Häufchen Elend, das sich nichts traue und später aggressiv werde, sagen die anderen.
Auf dem Rücken der Mütter ausgetragen
Ausgetragen wird der Kampf der Ideologien auf dem Rücken der Mütter. Die einen zögern (zu) lange beim Wiedereinstieg in den Beruf, die anderen bekommen ein dauerhaft schlechtes Gewissen und arbeiten Teilzeit. Dabei würde ein Fünftel der Mütter nach der Geburt des Kindes gern früher in den Beruf zurück. Jede achte Mutter würde außerdem am liebsten mit einem höheren Stunden umfang wieder einsteigen. Das ergab eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen im Auftrag des Bundesfamilien ministeriums in Berlin im September 2010. Es habe allerdings an der passenden Betreuung gefehlt, gaben die befragten Eltern an. Ausgewertet wurden knapp 1.600 Fragebögen von Eltern, deren Kinder Anfang 2007 geboren wurden. Ein weiteres Ergebnis dieser Studie war auch, dass rund 80 Prozent der Eltern ihr Kind im ersten Lebensjahr selbst betreuen. Wer als Mutter mit einem so kleinen Kind arbeiten geht, muss mit vielen Fragen, schiefen Blicken und dem Etikett „Karriere weib“ rechnen. Immer noch.
Die Wissenschaft, die sowohl die Befürworter als auch die Kritiker außerfamiliärer Kleinkindbetreuung ins Feld führen, heißt Bindungsforschung. Ein kleines Kind braucht eine feste Bindung zu einer Person. Ist die Bindung zur Mutter und/oder zum Vater grundsätzlich stabil, verkraftet das Kind auch eine weitere Bezugsperson, zum Beispiel eine Erzieherin in einer Krippe, ohne dass das Kind oder die Beziehung zu den Eltern Schaden nimmt. Die Kritiker der „Fremdbetreuung“ bezweifeln dies zwar – doch in vielen Kulturkreisen und Ländern der Job und Kleinkind unter einen Hut zu bringen, ist hierzulande nicht leicht.
Erde werden die Kinder von Großfamilien erzogen. Und auch in Deutschlands europäischen Nachbarländern schickt man Kleinkinder in Kitas, ohne dass der Nachwuchs in großem Umfang seelisch gestört und fürs Leben verunsichert ist.
Wichtig ist die Qualität
Wichtig ist die Frage nach der Qualität der Betreuung. Als man 1996 den Anspruch auf einen Kindergartenplatz gesetzlich vorschrieb, bezahlten Kinder und Eltern dies mit sinkender Qualität: Die Gruppen wurden größer, das zusätzliche Personal war oft nicht ausreichend gut qualifiziert. Doch gerade Kinder unter drei Jahren brauchen eine spezielle Pädagogik, und es sollte mindestens doppelt so viel Personal zur Verfügung stehen wie in einem Kindergarten. Stimmt der Betreuungsschlüssel nicht, reicht es nur für „satt und sauber“ und nicht für eine altersgemäße Zuwendung oder gar frühe Förderung.
Ob sich eine Familie eine individuelle Betreuung durch eine ins Haus kommende Kinderfrau oder eine Tagesmutter leisten will beziehungsweise kann, oder sich doch lieber für eine Kita entscheidet, das ist immer eine sehr persönliche Abwägung. Wer ein halbjähriges oder ein sehr schüchternes zweijähriges Kind hat, dem ist mit einer individuellen Betreuung in einer Familiensituation, zusammen mit wenigen anderen Tageskindern, vielleicht besser gedient als mit der Kita. Jede volle, aber pädagogisch gut ausgestattete Kita-Gruppe kann jedoch besser sein als eine unqualifizierte Tagesmutter, und jede engagierte, liebevolle Tagesmutter ohne Fachausbildung besser als eine pädagogische Kraft, die keine Lust auf kleine Kinder hat.